„Eine Gesellschaft glücklicher Idioten ist möglich!“

Teilnehmer des Verbandstag hören gespannt zu
Viele folgten der Einladung zum Verbandstag des Augenoptiker und Optometristenverbandes Nordrhein-Westfalen.
© AOV NRW

Thomas Heimbach, Vorsitzender des Augenoptiker und Optometristenverbandes Nordrhein-Westfalen (AOV NRW), freute sich sichtlich über den Zuspruch seitens des Publikums in Dortmund; noch bevor der 38. Verbandstag des Landesverbandes Fahrt aufnahm. Das Programm hatte es in sich, denn bekannte Persönlichkeiten aus der Politik, hochrangige Verbandsfunktionäre und eloquente Redner aus der Industrie wechselten sich auf der Bühne ab. Noch dazu hatten sie Themen im Gepäck, die für den Geschäftsalltag äußerst relevant sind. Ein brisantes gab Heimbach selbst zum Besten, den Vertrag mit der AOK, den der Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen (ZVA) nicht zur Freude aller Anwesenden vor Kurzem abgeschlossen hat.

Noch vielmehr als für dieses neue Schriftstück, das Vertragspreise und Festbeträge der AOK für die Zukunft regelt, interessierten sich die meisten Besucher für das Werk, das ganz offensichtlich solche Verträge überhaupt nötig macht. ZVA-Geschäftsführer Dr. Jan Wetzel nutzte die Chance und stellte bei seiner Aufarbeitung der Ereignisse rund um das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) die Arbeit des Bundesverbandes heraus. Die DOZ hat über das HHVG in den zurückliegenden Ausgaben regelmäßig berichtet - zuletzt noch einmal in der Novemberausgabe mit einem Bericht über die Untersuchung von Dr. Wolfgang Wesemann, für welche Kundengruppen des Augenoptikers das neue Gesetz und die neue Richtlinie überhaupt Anwendung finden. Auf die Richtlinie wartet die Branche bekanntermaßen noch, auch weil der ZVA und dessen Landesvertretungen, aber auch die großen Filialisten und etliche Inhaber von Augenoptikbetrieben recht erfolgreich und öffentlichkeitswirksam ihren Unmut kundgetan haben. „Das Engagement von vielen in der Augenoptik hat Früchte getragen, die gesamte Branche steht hinter uns“, meinte Wetzel.

Wie geht es weiter?

Das heißt aber noch lange nicht, dass die an dieser Stelle häufig diskutierten negativen Folgen des HHVG samt Richtlinie nicht in Kraft treten werden. Doch nachdem Wetzel die teilweise abenteuerliche Entstehung des neuen Gesetzes aufgezeigt hatte, brachte das Publikum großes Verständnis dafür auf, dass er sich mit dem „wie geht es weiter?“ etwas schwerer tat. „Der Gemeinsame Bundesausschuss wird vermutlich Anfang Dezember auf den Fragenkatalog des Bundes-Gesundheitsministeriums antworten“, sagte der ZVA-Geschäftsführer. Danach gebe es verschiedene Möglichkeiten: Die Frist des Ministeriums läuft Anfang Januar ab und die umstrittene Richtlinie tritt in Kraft. Oder die Richtlinie tritt aufgrund der weiterhin bestehenden Bedenken des Ministeriums nicht in Kraft und muss dann im weiteren Verlauf des Jahres 2018 geändert werden. Vielleicht aber werde das Thema schlicht „kassiert“ - was sicher den Geschmack der Branche am besten treffen würde.

Thomas Heimbach
Thomas Heimbach, Verbandsvorsitzender,
präsentierte die Branchenzahlen. ©AOV NRW

Ob das HHVG und dessen Richtlinie ein Dauerthema für die kommenden Jahre werden wird, hat vermutlich ein neuer Gesundheitsminister in der Hand – denn nicht nur die Zeit schreitet voran. Die zukünftige Führung des Gesundheitsministeriums entscheidet also auch darüber, ob aus den Reihen der Augenoptik gegen die Richtlinie geklagt wird. Dass im Falle eines Falles geklagt wird, scheint sicher. Wer (alles) klagt, ist noch offen. Nur wie, das ist bereits geregelt: „Über den Umweg AOK-Vertrag kann gegen das HHVG geklagt werden“, erklärte Heimbach im Anschluss an den Vortrag von Wetzel. Das sei sonst gar nicht so einfach.

Jedoch war das nicht die Absicht, mit der sich der ZVA und dessen Gremien mit der Krankenkasse an einen Tisch setzten und verhandelten. Heimbach: „Die Frage war nicht, ob ein Vertrag mit der AOK geschlossen wird, sondern wer diesen schließt.“ Und deswegen seien manche schwer verdaulichen Aspekte des Vertrages zumindest immer noch besser, als wenn sie von anderen – zum Beispiel Großfilialisten – abgeschlossen worden wären. Heimbach verteidigte den Vertrag und hatte zum Schluss seiner Rede noch zwei ziemlich gute Argumente parat: Zum einen muss jeder Betriebsinhaber noch seine eigene Unterschrift leisten, um sich für den Vertrag zu entscheiden – aber damit auch für die Möglichkeit, überhaupt mit der AOK bundesweit abrechnen zu können. Und zum anderen gibt es ein Sonderkündigungsrecht, wenn die mit der AOK ausgehandelte Folgeversorgung durch den Augenoptiker wegen der in Kraft getretenen Richtlinie des HHVG nichtig ist.

Zusatzbrille macht Umsatz

Die Themen HHVG und AOK-Vertrag stellten einiges in den Schatten, was beim Verbandstag ohne diese Programmpunkte bereits in der Mittagspause mehr Diskussionsstoff geboten hätte. So aber waren selbst die frisch gelieferten Branchenzahlen am Buffet und bei der Industrieausstellung beinahe schon wieder vergessen. Zwei Zahlen von Thomas Heimbach seien hier noch einmal ausdrücklich erwähnt: Der AOK-Vertrag sei durchschnittlich für 1,6 Prozent aller Verordnungen relevant, betonte er, das seien für einen durchschnittlichen Betrieb in Deutschland 16 Versorgungen im Jahr. Interessanter könnte eine andere Zahl sein, die kurz vor der Mittagspause unterzugehen drohte: Der auch durch die Industrie befeuerte Mehrverkauf hat in den vergangenen Jahren deutlich Fuß gefasst. „Dank der Zusatzbrille macht ein Durchschnittsbetrieb rund 55.000 Euro mehr Umsatz im Jahr“, erläuterte Heimbach.

Am Nachmittag gab es für die Besucher noch viele Tipps, wie sich der Umsatz im Betrieb steigern lässt. Ob durch neue Produkte wie Multifokal-Kontaktlinsen, eine geeignete Körpersprache im Verkauf oder den richtigen Umgang mit Reklamationen von Gleitsichtgläsern – Möglichkeiten zu optimieren, gibt es vermutlich in den meisten Betrieben. „Freuen Sie sich auf ein hochkarätiges Programm aus fachlichen, politischen, betriebswirtschaftlichen und marketingbezogenen Themen“, hatte der Vorsitzende des AOV NRW im Vorwort des Einladungs- und Programmheftes gesagt. Und Heimbach hielt mit seiner Mannschaft Wort, auch wenn Dr. Norbert Blüm ganz zu Beginn des Verbandstages für einen kurzen Moment weniger (Ex-)Politiker und einfach nur der oft zitierte Opa war, der gerne vom Krieg erzählt.

Norbert Blüm
Der frühere Bundesgesundheitsminister Dr. Norbert Blüm
ist das diesjährige Testimonial für die Imagekampagne.
©AOV NRW

Der ehemalige Bundesminister für Arbeit und Soziales musste aber an schreckliche Zeiten erinnern, um die heutige Gesellschaft und die Herausforderungen des Mittelstandes besser einordnen zu können. Dass Blüm in seiner politischen Karriere das Reden gelernt hat, zeigte er eindrucksvoll, aber auch inhaltlich lagen die meisten Besucher auf derselben Wellenlänge wie das neue Testimonial der Imagekampagne des AOV NRW. Eine „augenoptische Rede“ war von Blüm trotzdem nicht zu erwarten, dafür war er auch nicht eingeladen worden. Zwischen den Zeilen aber konnten die Zuhörer Verwertbares mit nach Hause nehmen. „Ich möchte, dass mir ein Pfleger oder eine Krankenschwester den Puls fühlt“, meinte Blüm, der auf japanische Verhältnisse hinwies. Dort seien Roboter in der Pflege tätig und die Japaner seien darüber glücklich. „Eine Gesellschaft glücklicher Idioten ist möglich“, erhob er die Stimme, und meinte damit gewiss nicht die Japaner an sich.

Entspricht das Bedürfnissen?

Ja, Roboter seien in der Lage, Dienstleistungen zu erbringen, „aber entspricht das den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen? Sie hier im Saal werden das nicht entscheiden, sondern Ihre Kunden.“ Der Ex-Minister brach eine Lanze für die Beratung durch einen Menschen und für eine Gesellschaft, in der der Mensch und sein Wissen noch etwas gilt. Auch dafür erhielt er Standing Ovations von mehr als 500 Gästen vor der Bühne. Thomas Heimbach hätte die auch verdient gehabt, alleine schon durch seine ebenso witzige wie berechtigte Frage an den Ex-Politiker, ob dessen Brille noch einmal „von uns angepasst werden“ müsse. Die bekannte Blüm-Brille rutschte fortwährend den Nasenrücken herunter; für ein Testimonial der Augenoptiker eher unpassend, für eine Überleitung Heimbachs hin zu den fachlichen Themen des Tages an diesem 12. November eine bemerkenswerte Tatsache.