Prof. Grein: „Die subjektive Refraktionsbestimmung bleibt das Maß aller Dinge“

Phoropter
Hans-Jürgen Grein findet es für Kunden eher unattraktiv, „immer wieder die Frage ,eins oder zwei besser?‘ zu beantworten. Wenn es Technologien gibt, die zügig zu einem guten Ergebnis führen, ist das zu begrüßen.“
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Technologien, die zu guten Ergebnissen bei der Refraktionsbestimmung führen, sind zu begrüßen. Doch der Augenoptiker muss sie in einen ganzheitlichen Prozess bis zur neuen Brille integrieren, denn: Screeningsysteme könnten bald auch in der Apotheke oder am Hauptbahnhof stehen.

In der Ausbildung zum Augenoptikermeister und in den diversen Studiengängen nimmt die Refraktionsbestimmung einen immensen Teil ein. Technologisch hochgerüstete Messinstrumente und Geräte scheinen das Wissen des Fachmanns immer mehr in den Hintergrund zu drängen, auch wenn sie noch als unter­stützende Maßnahme verkauft werden. Manch einer macht die Refraktion zum Erlebnis, andere wollen vor allem durch Technik Zeit gewinnen und die Genauigkeit erhöhen. Wo also steht die subjektive Refraktionsbestimmung heute und wie entwickelt sich die „erste aller optometrischen Dienstleistungen“ in der Zukunft?

Antworten darauf liefert Professor Dr. med. Dipl.-Ing. (FH) Hans-Jürgen Grein, der seit 2007 Professor für Augenoptik / Optometrie an der Technischen Hochschule Lübeck im Bereich Ophthalmotechnologie ist und sich wahrlich Experte in Sachen Refraktion nennen darf.

DOZ: Herr Grein, die Refraktion gehört zu den Heiligtümern der Augenoptik und ist Basis aller opto­metrischen Dienstleistungen. Doch die technologische Entwicklung schreitet voran – nagt sie an der Kerndisziplin unseres Handwerks oder unterstützt sie diese?

Projessor Hans-Jürgen Grein
„Gute Ausbildung ist durch nichts zu
ersetzen“, sagt Hans-­Jürgen Grein.
Das gilt auch für refraktionierende
Augenoptiker, die moderne
Screeninggeräte mit künstlicher
Intelligenz nutzen. © privat

Hans-Jürgen Grein: Beides. Wir haben mittlerweile Autorefraktometer, die einiges mindestens so gut können wie der Augenoptiker bei der subjektiven Refraktionsbestimmung, aber eben nicht alles. Wenn die subjektive Refraktionsbestimmung durch präzise Vormessungen schneller wird, ist das ein Vorteil. Es bleibt dann mehr Zeit für eine ausführliche Beratung. Auch das ist eine Kerndisziplin.

Warum wird der Augenoptiker auch in zwanzig Jahren noch der erste Ansprechpartner für das optimale Sehen sein?

Das Ermitteln von Messwerten ist das eine. Daraus eine funktionstüchtige, ästhetische und komfortable Brille zu machen, ist eine komplexe Aufgabe, die durch Technik alleine in ihrer ganzen Individualität nicht zu lösen ist. Sicher werden die technischen Möglichkeiten immer besser, sodass einfache Brillen irgendwann mit akzeptabler Qualität online angepasst werden können. Ich glaube aber, dass es immer Menschen geben wird, die von Menschen beraten werden wollen. Dabei wird die Beratung über die Brille hinausgehen und es werden Themen rund um die Augengesundheit an Bedeutung gewinnen.

Was ist für Sie heute der Goldstandard der Refraktion?

Daran hat sich eigentlich nichts geändert. Die subjektive Refraktionsbestimmung mit Kreuzzylinder-­Methode und Binokularabgleich ist der Goldstandard. Je nach Situation können sich weitere Teste zum Binokularsehen anschließen. An diesen Ergebnissen müssen sich alle neuen Methoden, insbesondere die objektiven, messen lassen.

Welche Einflussfaktoren sind bei der subjektiven Refraktion zu berücksichtigen und wie wirken sie sich auf das Resultat aus? Anders gefragt, wie genau ist eigentlich die subjektive Refraktion?

Bei der subjektiven Refraktionsbestimmung sind zwei Subjekte beteiligt: Der Proband und der Refraktionist. Beide nehmen Einfluss auf das Ergebnis. Beim Probanden spielen physiologische Schwankungen des Sehens eine Rolle, wie zum Beispiel die Benetzungssituation der Hornhaut oder die Aderhautdicke. Aber auch die psychologischen Faktoren wie Aufmerksamkeit, Beobachtungsfähigkeit oder Stimmung sind wichtig. Der Untersucher wiederum beeinflusst das Ergebnis durch psychologische Faktoren wie Empathie, Erwartungshaltungen oder Zeitdruck. Das alles führt zu einer nicht unerheblichen Unsicherheit bei der Refraktionsbestimmung. Die Refraktionsschwankungen sind individuell unterschiedlich und liegen zwischen ± 0,25 Dioptrien und ± 0,5 Dioptrien in Sphäre und Zylinder. Im Einzelfall sogar darüber. Der refraktionierende Augenoptiker könnte sich da in falscher Sicherheit wiegen. Man hat ja alles korrekt gemacht, also muss das Ergebnis auch absolut korrekt sein. Einen absoluten Wert gibt es aber nicht. Fünf Mal an verschiedenen Tagen refraktionieren und dann den Mittelwert bilden, das wäre ein Weg. Aber welcher Kunde würde da mitmachen?

Der PD-Maßstab und der Edding sind in Zeiten der Digitalisierung mittlerweile verpönt. Ist denn die Messbrille heute noch „State of the Art“ und einem modernen Kunden noch guten Gewissens zuzumuten?

Unbedingt! Es gibt keine bessere Möglichkeit, reproduzierbare Messbedingungen herzustellen, als mit Messbrille. Am Phoropter muss sehr darauf geachtet werden, dass sich Parameter wie Hornhautscheitelabstand und Höhenjustierung nicht verändern. Eine Nahglasbestimmung mit physiologischer Kopfhaltung geht damit kaum. Die Messbrille bleibt für die augenoptische Tätigkeit unverzichtbar.

Derzeit ist oft und viel von Telemedizin die Rede. Könnte sie sogar bei der Refraktion zukünftig eine Rolle spielen, wenn es Apps oder sonstige Möglichkeiten gibt, die nur richtig bedient werden müssen, um das perfekte Ergebnis zu liefern?

Grundsätzlich können Algorithmen, wie sie der Refraktionsbestimmung zugrunde liegen, automatisiert werden. Damit lassen sich in gewissen Grenzen gute Ergebnisse erzielen. Ein Szenario, bei dem ein Computer mit Hilfe Künstlicher Intelligenz eine subjektive Refraktionsbestimmung an einem Phoropter steuert, gibt es bereits. Dazu braucht es aber ein gewisses Set-up an Hardware, zum Beispiel adaptive Linsen, um definierte Sehbedingungen zu erzeugen. Das fehlt bei allen Handy-­App-Lösungen, was es in diesem Bereich deutlich schwieriger macht, ausreichend genaue Ergebnisse zu bekommen. Tele-Refraktionsbestimmung ist in Zusammenarbeit mit einem Opto­metristen denkbar. Kunde und Refraktionist können dabei hunderte Kilometer voneinander entfernt sein und der Optometrist steuert den Phoropter von der Ferne. Das ist eventuell sinnvoll im australischen Outback, aber nicht in unserer deutschen Versorgungssituation.

Objektive und subjektive Refraktion verschmelzen mittlerweile in den modernen Geräten, der Phoropter, wie wir ihn kennen, scheint ein Auslaufmodell zu sein. Glauben Sie, diese Messinstrumente werden sich durchsetzen oder wird der Kunde doch eher auf den Erlebnisfaktor anspringen, Stichwort 3D-­Refraktion?

Ich denke, dass es für Kunden gar nicht so attraktiv ist, immer wieder die Frage „eins oder zwei besser?“ zu beantworten. Auch dann nicht, wenn die Sehteste durch hübsche 3D-Bilder aufgewertet werden. Wenn es Technologien gibt, die zügig zu einem guten Ergebnis führen, ist das zu begrüßen. Mittlerweile sind ja auch binokulare Messungen objektiv möglich. Die Messung wird schneller. Das bringt zusätzliche Beratungszeit für alle anderen Fragen rund um gutes Sehen. Außerdem ergeben sich ganz neue Möglichkeiten zum Beispiel bei der binokularen objektiven Messung des Akkommodationsgleichgewichts. Darüber wissen wir heute noch wenig.

Messbrille
Die gute alte Messbrille hat im Gegensatz zu Edding und PS-Maßstab immer
noch Berechtigung für den Einsatz beim Augenoptiker. Mehr noch: sie „ist
unverzichtbar“! © Adobe Stock / grafikplusfoto

Welche technologischen Entwicklungen dürfen wir für die kommenden Jahre erwarten?

In der professionellen Gerätetechnik geht es hin zu Multifunktionsgeräten, die mehrere Funktionen vereinen. Wir erhalten dann nicht nur die Refraktionswerte, sondern beispielsweise auch die Hornhauttopographie, den Augeninnendruck oder den Netzhautstatus. Weiterentwicklungen sind im Bereich der Refraktionsstrategie durch Einsatz von Künstlicher Intelligenz möglich. Das könnte die Refraktion durch adaptive Algorithmen noch schneller ans Ziel führen. Bei der Selbstrefraktion am Handy dagegen gibt es noch einige ungelöste Probleme. Es ist schwierig, die Messsituation genau zu kontrollieren, insbesondere ohne zusätzliche und gegebenenfalls teure Handyaufsätze. Deutliche Fortschritte wird es im Bereich der virtuellen Anpassung von Brillen geben. Hat ein Kunde erst einmal ein 3D-Avatar zu seinem Gesicht, kann er zukünftig noch sehr viel genauer vir­tuell Brillen aufprobieren. Und es lässt sich wohl auch so die Zentrierung festlegen. Bis das für Gleitsichtbrillen funktioniert, ist es aber noch ein weiter Weg.

Wird sich die Refraktionsbestimmung und nicht zuletzt das Tun des Augenoptikers dadurch verändern?

Das glaube ich schon. Automatisierte Screeningverfahren werden immer zuverlässiger und sind leicht anzuwenden. Vor einem Jahr sorgte eine Veröffentlichung in Nature Medicine für Aufmerksamkeit. In der renommierten Moorfields Augenklinik in London wurde eine KI-Software zur Erkennung von Netzhauterkrankungen getestet. Sie war mindestens so gut wie die Fachärzte, obwohl sie erst mit knapp 15.000 Bildern trainiert wurde. Das ist erst der Anfang - diese Technologien werden bald überall zur Verfügung stehen. Wenn die eigentliche Refraktionsbestimmung schneller und einfacher wird, bleibt für den Augenoptiker Raum für den Bereich Beratung und Gesundheitsvorsorge. Aufgrund der alternden Bevölkerung wird es dafür auch einen Markt geben. Die Screeningsysteme könnten aber auch in der Apotheke, beim Drogeriemarkt oder am Hauptbahnhof stehen. Nur wenn die Kunden das Screening als Teil eines Gesamtberatungspakets zum Thema Auge und Brille verstehen, wird es sich beim Augenoptiker etablieren.

Wie werden sich diese Entwicklungen wohl auf die Sehversorgung in Deutschland und global auswirken?

Man muss kein Prophet sein, um die diagnostischen Möglichkeiten zu erkennen, die aus moderner Bildgebung und intelligenter Auswertung erwachsen. Systeme zum Netzhautscreening sind ja bereits auf dem Markt. Die automatisierte Auswertung wird rasant besser. Das wird die Gesundheitsversorgung und insbesondere die Früherkennung von Krankheiten auf ein neues Niveau heben. Die Messung als solches wird unabhängig vom Fachpersonal und ist sogar wie im Passbildautomat ganz ohne Personal denkbar. Für die Interpretation und das Management der Erkrankungen wird es aber immer Spezialisten geben. Auch die Augenärzte werden sicher nicht arbeitslos. In der Augenoptik werden sich zunehmend Ominchannel-­Konzepte durchsetzen, also eine Kombination von Online- und stationärem Service. Der reine Onlinehandel kann die hohen Qualitätsanforderungen in der Augenoptik alleine nicht gewährleisten.

Zurück in die Gegenwart: Handeln Kollegen, die heute nur nach der Messung mit dem Autorefraktometer eine Brille anfertigen, nachlässiger als Onlinehändler, die sich darauf verlassen, dass der Kunde die richtigen Werte in die Bestellmaske eingibt?

Aus einer Reihe von Studien wissen wir, dass moderne Autorefraktometer durch häufige Messwiederholung bei der Bestimmung von Zylinder und Achslage ähnlich gut sind wie die subjektive Refraktion. Der Binokularabgleich lässt sich aber nicht ersetzen und ist für die Verträglichkeit der Brille besonders wichtig. Die subjektive Refraktionsbestimmung bleibt das Maß aller Dinge. Beim Onlinehandel liegt die Nachlässigkeit gar nicht so sehr bei den Brillenwerten. Da ist der Kunde verantwortlich, aktuelle Daten zu liefern. Die Nachlässigkeit liegt eher im Bereich der Brillenglaszentrierung, wenn Kunden zur Selbstmessung der PD angeleitet und Höhendaten gar nicht erfasst werden. Das geht kräftig schief.

Wo liegt die größere Fehlerquelle: bei einer objektiven Refraktion oder bei einer subjektiven, die von einem unerfahrenen oder unachtsamen Augenoptiker durchgeführt wird?

Natürlich kann bei der subjektiven Refraktionsbestimmung einiges falsch laufen. Deshalb aber nur noch die objektive Refraktion zu fordern, ist nicht schlüssig. Umgekehrt kann eine gute objektive Refraktion als Basis für den subjektiven Abgleich viele Probleme fernhalten. Die eigentliche Antwort auf die Frage heißt aber: Gute Ausbildung ist durch nichts zu ersetzen!  

Die Refraktion ist dem Augenoptikermeister vorbehalten – eigentlich. Tatsächlich gibt es landauf, landab, etliche Gesellen, die Augenprüfungen vornehmen. Ist das mit der heutigen technischen Unterstützung überhaupt ein Problem, war es jemals eins?

Die Praxis zeigt, dass es in vielen Fällen funktionieren kann. Aber eben nicht in allen. Die Refraktionsbestimmung, bei der alles glatt geht, kann nach „Kochrezept“ abgearbeitet werden. Aber immer dann, wenn es nicht so glatt läuft oder die Voraussetzungen des Kunden komplizierter sind, wird das Wissen eines Augenoptikermeisters oder Bachelors in Augenoptik relevant. Es bedarf einer gewissen Virtuosität bei der Refraktionsbestimmung, um den Refraktionsablauf bei Bedarf zu modifizieren. Dazu muss man die Hintergründe komplett verstanden haben, das braucht fundierte Ausbildung. Spätestens wenn es um Probleme des Binokularsehens oder um die Deutung von pathologischen Einflüssen auf die Refraktionsbestimmung geht, ist das Wissen des Augenoptikermeisters gefordert.

Um den Blutzucker zu messen, braucht niemand heute noch einen Arzt. Wird der Fehlsichtige von morgenüberhaupt noch eine Refraktion nachfragen?

Der Vergleich hinkt etwas. Die Blutzuckermessung steht als solche für sich und ist nur eine sehr kurze Momentaufnahme. Das Ergebnis kann anhand von Grenzwerten als „normal“ oder „nicht normal“ klassifiziert werden. Dagegen haben die Refraktionswerte als solche wenig Wert für den Kunden, wenn keine Brille daraus wird. Es folgen noch viele Schritte dahin. Die Fehlsichtigen fragen also in der Regel nicht eine Refraktionsbestimmung, sondern eine Brille nach. Kaum jemand wird sich „nur so“ die Refraktion messen lassen. Die Menschen wollen bestenfalls wissen, ob die neuen Werte eine geänderte Brille nötig machen oder nicht. Das lässt sich, zumindest bei geringeren Änderungen, nicht so leicht nur anhand der Messwerte beantworten. Jedenfalls nicht vom Apotheker oder Drogisten.

Und damit noch einmal zurück zum Anfang des Interviews: Wie können wir es schaffen, den Brillenträgern und all jenen, die es werden sollten, zu erklären, dass sie sich vor dem Kauf einer neuen Brille beim Augenoptiker die Augen prüfen lassen müssen?

Es wird kaum gelingen, alle zu erreichen. Wichtig sind als Multiplikatoren diejenigen, die in die Geschäfte kommen. Wenn die Kunden realisieren, warum der Aufwand der Augenprüfung und die Beratung rundherum sinnvoll sind, werden sie das auch weitererzählen beziehungsweise bei Facebook oder Snapchat posten. Vielleicht sollte man öfter Influencer zum Augencheck einladen.

Die Fragen stellte Ingo Rütten

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