Dürfen augenoptisch-optometrische Dienstleistungen etwas kosten?
"Ist nichts wert, was nichts kostet?", fragt Prof. Joachim Köhler in seinem Meinungsbeitrag für die DOZ in Bezug auf augenoptisch-optometrische Dienstleistungen.
Auf der Jahrestagung Sichtkontakte in Osnabrück wurde ich selbst Auslöser einer nicht enden wollenden Diskussion in unserer Branche: der Frage nach der Vergütung von augenoptisch-optometrischen Dienstleistungen. Zum besseren Verständnis hier ein kurzer Abriss über die Entwicklungen eben dieser Dienstleistungen. Seit Brillen angefertigt werden, ist hinreichend bekannt, dass eine Brille mehr ist als eine Fassung und zwei Gläser. Eine Brille wird erst dann zu einem tauglichen Produkt, wenn durch geeignete Messvorgänge die erforderlichen Korrektionswerte, die Zentrierdaten und die optisch und anatomisch korrekte Anpassung sichergestellt ist. So weit, so gut.
Seit Jahrzehnten sind Augenoptikerinnen und Augenoptiker auf Grundlage einer immer besser gewordenen Aus- und Weiterbildung damit beschäftigt, eben diese unverzichtbaren Messvorgänge zum Wohl der Brille tragenden Bevölkerung mit großer Sorgfalt und höchst verlässlicher Präzision durchzuführen. In all den Jahren ist es aber nicht flächendeckend gelungen, diese Dienstleistungen auch als geldwertes „Produkt“ zu etablieren. Natürlich gibt es Kolleginnen und Kollegen, die sich diese Arbeiten exklusiv bezahlen lassen, aber in der Breite des Gesamtmarkts verschwindet die Vergütung dieser Leistungen in einer Mischkalkulation und ist somit zur Produktnebenleistung verkommen.
Ist nichts wert, was nichts kostet?
Nun mag eingewendet werden, dass in einem Markt, der derartige Strukturen mitentwickelt hat und dabei betriebswirtschaftlich keinen wirklichen Schaden verzeichnen musste, es keinen Grund gibt, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu ändern. Dem darf entgegnet werden, dass die scheinbar kostenfreie Erbringung von Dienstleistungen unerwünschte Nebeneffekte mit sich bringt: Es sinkt das Werteempfinden der Verbraucher gegenüber solchen Leistungen. Verhaltensforscher und Marktbeobachter wiederholen seit Jahren gebetsmühlenartig die Ergebnisse von Marktbeobachtungen, die da lauten: Was nichts kostet, ist auch nichts wert!
Es schrumpft das Wertempfinden gegenüber augenoptischen Dienstleistungen. Oder noch viel schlimmer, es entsteht erst gar kein Wertempfinden, sondern derartige Leistungen werden schlichtweg als selbstverständlich angesehen – so, wie der kostenlose Ersatz einer Brillenscharnierschraube erwartet wird. Beide Leistungen, die optometrischen Messungen wie der Ersatz einer Schraube oder die Brillennachanpassung, sind betriebswirtschaftlich kostenintensive Arbeiten, die kalkulatorisch irgendwo aufgefangen werden müssen. Daraus hat sich im Lauf der Jahrzehnte eine Mischkalkulation entwickelt, mit der die Mehrheit der augenoptischen Branche ihren Frieden gefunden zu haben scheint.
Schauen wir nun auf den aktuellen Stand in der augenoptisch-optometrischen Aus- und Weiterbildung. Da hat sich doch einiges verändert – und zwar sehr zum Positiven. Die berufliche Weiterbildung ist im Hochschulbereich angekommen und die augenoptischen Kernkompetenzen sind durch eine Vielzahl von Mess- und Diagnoseverfahren der klinischen Optometrie bereichert worden. In Deutschland hat sich die Augenoptik eindeutig in Richtung klinische Optometrie weiterentwickelt. Die Kollegen von heute nenne ich gerne „Augenoptiker-Optometristen 4.0“, wohlwissend, dass das nicht ganz gendergerecht ist.
Seine Primärkompetenzen sind heute sehr viel umfangreicher als noch vor einigen Jahrzehnten. Deshalb sind diese nachrückenden Kolleginnen auch schlecht beraten, wenn ihnen neben Fachkompetenz nicht auch noch vermittelt wird, dass diese Leistungen als eigenständige, geldwerte Produkte den Verbrauchern gegenüber kommuniziert werden müssen. Nur durch eine entsprechende Wertevermittlung kann sich auch eine entsprechende Wertschätzung seitens der Verbraucherinnen entwickeln. Dabei sollten wir ein menschliches Grundbedürfnis nie aus den Augen verlieren: Menschen wollen gut und beschwerdefrei sehen können.
Der Weg zum Rundum-sorglos-Paket
Besonders in der heutigen Zeit ist das Sehen zu einer Primärfunktion des Alltags geworden. Beobachten Sie doch nur mal Ihre unmittelbare Umgebung im alltäglichen Leben. Fast jeder zweite Passant im Straßenbild, im Kaffeehaus oder im öffentlichen Nahverkehr klebt mit seiner Nase am Smartphone, um Textnachrichten oder Streamingdienste zu konsumieren. Es ist wirklich nicht nötig, dass die Augenoptik 4.0 sich mit ihren Leistungsfähigkeiten versteckt oder gar auf eine Honorierung verzichtet. Im Gegenteil: Bieten Sie Ihre Leistungsfähigkeit selbstbewusst an. Sollte es dennoch weiter so praktiziert werden, dass die augenoptisch-optometrische Dienstleistung über eine Mischkalkulation durch den Verkauf von Brillen, Brillengläsern und Kontaktlinsen mitfinanziert wird, dann sollten Sie überdenken, ob der Verkauf von nur einer Brille pro Kunde noch sinnvoll ist.
Meine Idealvorstellung ist ein Rundum-sorglos-Paket für alle Brillenträger der Zukunft. Ein solches Paket sieht nicht mehr die Versorgung mit einer Brille vor, sondern es sollen Versorgungskonzepte vermittelt werden. Dazu gehören neben einer Tagesbrille entsprechende Kontaktlinsen und Sonnen- beziehungsweise Lichtschutzbrillen, wenn ich die Blue-Blocker für den IT-Bereich extra erwähnen darf. Natürlich muss in einem solchen Paket auch an Brillen für den digitalen Alltag gedacht werden (in Abhängigkeit vom Kundenalter mit entsprechenden Brillenglas-Modifikationen).
Nun höre ich schon wieder den Aufschrei des Entsetzens einiger Kolleginnen, die jetzt schon wissen, dass Brillenkunden ein solches Paket nie akzeptieren werden. Vielen Kollegen fällt es ja schon schwer, bei Anpassung und Auswahl einer Tagesbrille auch noch über eine geeignete Sonnenbrille zu sprechen. Der Kunde von heute kann sich zu diesem Rundum-sorglos-Paket noch gar nicht äußern, weil es dieses Angebot noch gar nicht gibt. Es sei denn, Sie fangen morgen damit an!
Natürlich wirken derartige Vorstellungen befremdlich. Das liegt vor allem daran, dass wir Menschen grundsätzlich Angst vor Veränderungen haben. Wir lieben all jene Dinge, die uns über Jahre vertraut sind. Davor habe ich auch Respekt und es gibt auch keinen Grund, an bewährten Konzepten etwas zu verändern. Wenn wir aber dem Berufsnachwuchs neue, attraktive Chancen ermöglichen wollen, müssen möglicherweise alte Strukturen neu überdacht werden und dazu gehört auch, dass die kostenfreie Dienstleistungslieferung auf lange Sicht nicht zu halten sein wird.
Meine Vorstellungen über ein Rundum-sorglos-Paket mögen heute noch weit über das gesteckte Ziel hinausschießen. Aber schon heute begreifen immer mehr Verbraucher, dass sie mit ihrer Tagesbrille im IT-Bereich nicht gut zurechtkommen. Zusätzlich hat der vorige Sommer nicht nur das Bewusstsein für die Klimaveränderungen geschärft, sondern viele Menschen mussten auch erleben, dass ihre Augen bei dem permanenten Sonnenlicht gelitten haben. Bieten Sie für diese Lebensbereiche augenoptisch-optometrische Lösungen im Rahmen Ihrer Kernkompetenzen. Es ist eher zu erwarten, dass Ihre Kundinnen Ihnen danken, als dass sie Ihnen daraus einen Vorwurf machen.
Dieser Meinungsbeitrag ist in der aktuellen Dezember-Ausgabe der DOZ erschienen.
Prof. Joachim Köhler
Autor: Prof. Joachim Köhler
ist emeritierter Professor für Augenoptik/ Optometrie und Marketing der Berliner Hochschule für Technik (BHT). Seit 1984 führt er zudem sein eigenes Unternehmen „TSB – Köhler Training, Schulung & Beratung“ und bietet noch heute Seminare rund um das Thema Marketing an.