Erlebnisbericht: RapidGlasses im Praxistest im Amazonastiefland
Reinhard Müller ist zweiter Vorsitzender des Entwicklungsdienst Deutscher Augenoptiker (EDA) und als solcher ein tüftelnder Weltverbesserer. Er hat schon so manche Innovation erdacht und entwickelt, die bedürftigen Menschen wieder zu (besserem) Sehen verholfen hat. Und Reinhard Müller wäre nicht Reinhard Müller, wenn er seine Erfindungen nicht selbst im Praxiseinsatz testen würde.
Wie ist es, vor Ort aktiv zu sein? Welche Hürden sind hier zu überwinden? Welche Probleme zu lösen? Müller nimmt uns mit auf seine Reise ins peruanische Amazonastiefland, die im März 2018 die Tauglichkeit der „schnellen Brille“ RapidGlasses unter Beweis stellen sollte. Exklusiv für die DOZ schrieb er einen persönlichen Erfahrungsbericht der etwas anderen Form. Der Bericht über das soziale Projekt "RapidGlasses" erscheint in der kommenden DOZ 07|2019.
Anreise aus Frankfurt:
„Das Peru-Abenteuer hat begonnen: Ich bin zwar gut in Lima gelandet, aber meine Koffer noch nicht. Die sollten morgen Vormittag eintreffen, sonst wird's teuer. Morgen geht es zuerst ins Instituto Eurohispano, und danach will ich nach Arequpa fliegen - das wäre alles schon eingefädelt. Für mich war es jetzt ein 24-Stunden-Tag.“
„Mein Kofferproblem geht in die dritte und vierte Runde. Erst, wenn ich sie morgen Vormittag in der Hand habe, ist es (fast) ausgestanden: es gab noch Zollprobleme bis tief in die Nacht. Heute habe ich mir das Institut zeigen lassen und es ist für mich nochmals klarer, was mein Auftrag hier ist. Seltsam, dass man in Peru nicht offiziell lernen kann, wie man eine Brille herstellt. Krass. Aus Deutschland habe ich einen Husten importiert, und die Flugzeugluft hat ihn nicht verringert - zum Glück konnte ich heute am Meer etwas inhalieren. Gott möge helfen (so muss man es inzwischen sagen), dass ich morgen meine Technik in Händen halten darf und alles funktioniert! Schließlich werde ich morgen zum ersten Mal auf peruanischem Boden das neue RapidGlasses-System vorstellen. Das wäre schon ein Highlight. Hoffen wir, dass die Technik nicht versagt, sondern einfach nur klappt. Und diese Leute hier mega davon profitieren!“
„Heute hat alles geklappt. Gott sei Dank! Ich habe meine Koffer bekommen, zwar komplett durchsucht, aber es war wieder alles verstaut. Habe die Klinik MMI besucht und ihnen das System gezeigt, sie waren sehr angetan, haben schnell kapiert und waren dankbar, freundlich und hilfsbereit. Das war echt schön! Innerlich bereite ich unsere Abenteuer-Tour morgen früh vor: Um 5 Uhr geht der Flieger in den Urwald. Heute Abend noch mein Gepäck schnüren und dann ein paar Stunden schlafen. In Pucallpa angekommen, werden wir abgeholt und zum Wasserflugzeug gebracht, schätzungsweise sind wir um 8 Uhr in der Luft, fliegen eine halbe Stunde und werden dann im Dorf von Remigio (einem peruanischen Kontaktmann) landen. Dort werden wir unsere Station aufschlagen und übernachten. Nachmittags geht es wieder zurück in die Urwaldstadt Pucallpa. Dort noch eine Übernachtung. Ich freue mich schon auf eine richtig lange und gute Nacht.“
Von Lima in den Urwald
„Von Lima aus flogen wir, ein peruanischer Optometrist und ich, nach Pucallpa, einer Urwaldstadt am Rande des riesigen Amazonasgebiets. Am Flughafen wurden wir von einem Freund abgeholt, der uns zur Base der ,fliegenden Missionare‘ brachte. In der Nacht hatte es noch geschüttet und es war zuerst unklar, ob wir unsere Mission überhaupt würden durchführen können. Doch anderthalb Stunden später hoben wir ab. Mit dem Wasserflugzeug ging es eine halbe Flugstunde weiter rein ins Amazonasgebiet. Wir konnten nicht direkt an seinem Dorf aufsetzen, da der Fluss hier nicht breit genug war. Also setzten wir von einem Nachbardorf aus mit dem Boot über. Jeder Step verpasste einem Bleichgesicht einen neuen Adrenalinschub - doch es gab kein Zurück.“
„Dort angekommen, ging es zuerst in die Unterkunft, bevor wir unsere Siebensachen installierten. Über Lautsprecher wurden wir und unsere Aktion angekündigt, und schon bald war die Versammlungshalle mit unzähligen Menschen mit Sehproblemen gefüllt. Wenig später bekamen wir Mittagessen, die erste Mahlzeit des Tages. Da ich fasten gewohnt bin, war es machbar. Kopfschmerzen waren eh' ständiger Begleiter. Notorischer Schlafmangel, Höhenumstellung und die ständigen Ortwechsel forderten mich doch ziemlich. Ich freute mich auf eine geruhsame Nacht. Doch es sollte anders kommen: neugierige Ameisen erwarteten uns und brachten uns um den Schlaf. Mitten in der Nacht bekam ich die Krise: als ich einmal den Arm rausstreckte, überkam ihn ein Kribbeln, und ich streifte unzählige nachtaktive Ameisen ab. Wie ich später erfuhr, hatte ich den Missionarskurs verpasst, in dem man lernt, sich mithilfe von Plastikfolien und Moskitonetz so zu präparieren, dass man kein 'gefundenes Fressen' ist. Aber eine schlechte Nacht ist ja noch kein Garant für einen schlechten Tag. Zum Frühstück gab es Linsen mit Reis. Und irgendeine Limonade. Alles ein bisschen ungewöhnlich, aber dafür reichlich. Aufregend. Und prägend für einen Wohlstandsdeutschen wie mich.“
Einsatz der RapidGlasses
„Nativos leben hier in sehr großer Bescheidenheit: über Hygiene, Ästhetik, Sauberkeit, Komfort, hochtrabende Gedanken und Lebenssinn braucht man hier nicht zu diskutieren. Überleben und irgendwie das Leben meistern sind die Hauptthemen. Mit 50 spätestens nicht mehr lesen zu können, ist hier normal. Nicht denkbar in unserer Welt. Mein großer Respekt vor diesen Menschen. Die Welt ist voller Kontraste – und meine Mission kreiste um die Fragestellung: Kann man mitten im Urwald gute, moderne und individuelle Brillen für diese Menschen anfertigen?“
„Die Antwort lautet: Ja, man kann! Oder genauer: Ja, wir können! Denn das System hat die Nagelprobe bestanden und so konnten an einem Tag 60 Menschen mit einer passenden Brille beglückt werden. Ein Strahlen in diese Gesichter zu zaubern, ist faszinierend und macht fast schon süchtig. Zur maschinellen Ausstattung gehörten eine DIN-Bohrmaschine, eine Kopierfräse, Scheitelbrechwertmesser, ein Tableau zum Zentrieren und Blocken und eine Feile, mit der man die Spitzfacette aufbringt. Angetrieben von einem kleinen, aber lauten Generator oder aber über Solarstrom und Konverter. Die Geräte stammen zwar aus China, aber was ist nicht aus China, was wir täglich in der Hand haben oder auf dem Leib tragen? Die Maschinchen sind sehr schlicht, ohne anfällige Elektronik und einfach simpel im Reparaturfall. Aufwändige und spannungssensible Elektronik muss zuhause bleiben.“
Eine Reise, die Sinn gemacht hat
„So ist es nun möglich auch in anderen Teilen der Welt Menschen mit gutem Sehen zu versorgen. Der finanzielle Aufwand hält sich ebenso in Grenzen und könnte ausgebildeten Einheimischen schnell zu einer Lebensverbesserung dienen. Möge es noch vielen Menschen mehr Lebensqualität ermöglichen und sich selbst besser zu versorgen können. Dabei mitzuhelfen macht Sinn - und befriedigt zutiefst. Die (individuelle) Brille ist ein Hilfsmittel, das geradezu für den Entwicklungsdienst prädestiniert ist: man kann sehr schnell und in einem überschaubaren Kostenrahmen Menschen glücklich machen. Und wieder erwerbsfähig.“