Kinderoptometristin Tanja Natalizi berichtet von ihrem Alltag
"Kinderoptometrie kann man nicht an einem Wochenende lernen." Für Tanja Natalizi spielt Fachwissen eine große Rolle.
Erstveröffentlicht in der DOZ 07I23
„Dann kommen Sie mal mit nach oben.“ Diesen Satz sagt Augenoptikermeisterin und Optometristin Tanja Natalizi regelmäßig, wenn sie Eltern mit ihren Kindern in ihrem Fachbetrieb für Augenoptik, Optometrie und Hörakustik im nordrhein-westfälischen Solingen versorgt. Vor drei Jahren hat sich die 40-Jährige im Zuge eines Umbaus nach der Geschäftsübernahme einen Traum erfüllt und dank eines Durchbruchs vom Laden im Erdgeschoss einen Übergang in den neuen Bereich für Kinderoptometrie im ersten Stock des Hauses geschaffen. Nach gut 25 Stufen gelangen die Eltern zusammen mit ihren Kindern in den etwa 30 Quadratmeter großen Refraktionsraum mit buntem Kinderteppich.
„Ich bin seit zehn Jahren in diesem Betrieb und meine damaligen Chefs haben schon immer Kinderoptometrie angeboten, allerdings nicht in diesem Umfang“, erzählt die 40-Jährige. Kinder brauchten Platz, um sich zu bewegen. Leider habe es früher immer wieder Kunden gegeben, die sich durch Kinderlärm gestört fühlen. „Für die Eltern entsteht dann ein ‚Du musst dich jetzt benehmen‘-Druck und die Kinder werden ständig ermahnt.“ Sowohl für die Eltern sei der neue abgetrennte Bereich für die Kinderoptometrie entspannter als auch für sie und ihre Kollegin, die nun einfach die Tür zumachen und mit den Kindern in Ruhe arbeiten könnten.
Klare Linien statt buntes Kinderparadies
Doch wer jetzt in ein buntes Kinderparadies zu blicken glaubt, wenn er nach den 25 Treppenstufen die Tür zum Refraktionsraum öffnet, der irrt gewaltig. Natalizi hat ihr klares Inneneinrichtungskonzept aus dem Laden mit weißen Wänden, Holztischen und -regalen im Kinderrefraktionsraum fortgeführt. Lediglich der bunte Teppich in der Nähe des Refraktionsstuhls, die Handpuppen – Fuchs Erika und die Drachen Felix Ferdinand und Hans – auf einem Regal und die niedlichen kleinen Brillenständer in Zebra-, Pinguin-, Bären- und Hundeform darunter lassen erahnen, dass es sich um eine Kinderstube handelt. Es sind wenige Geräte zu sehen und auch Spielzeug sucht man zumindest auf den ersten Blick vergeblich. Natalizis Devise: „Wir sind kindgerecht eingerichtet, aber wir sind kein Kindergarten. Wir wollen Kinderoptometrie machen und nicht die ganze Zeit spielen“. Dennoch dürfen die Kinder – im Gegensatz zu den anderen Räumen im Betrieb – alles anfassen und Schubladen oder Schranktüren öffnen. Kleine Ausnahme: die Geräte. Zwar ist die Vielzahl der Messinstrumente ohnehin mobil und meist nur für die Optometristin greifbar im Rollcontainer verstaut, aber wenn im Laufe der Untersuchungen doch das ein oder andere Gerät und Messinstrument auf dem Tisch oder der Fensterbank liegt, dann setzt die Augenoptikerin klare Grenzen und sagt unmissverständlich, „die Geräte sind meine und dürfen nur von mir bedient werden.
Seit 1929 existiert der augenoptische Fachbetrieb Wollenhaupt in Solingen. Tanja Natalizi ist seit zehn Jahren im Betrieb tätig. Gemeinsam mit einer Kollegin kümmert sie sich um die Kinderoptometrie.
Anamnesebogen wird vor dem Termin ausgefüllt
Zurück zum Refraktionsraum: Bei genauerem Hinsehen entdeckt man in einer Ecke eine Spielzeugkiste. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man den Kindern nicht zu viel Spielzeug während der Untersuchungen anbieten sollte“, sagt Natalizi. Zu viele Sachen lenkten die Kinder nur ab. Für die Messungen brauche sie jedoch deren volle Aufmerksamkeit. Um diese zu bekommen, setzt sie sich oft zu den kleinen Kindern auf den runden Teppich und nimmt sich viel Zeit für das Kind – und nur ein wenig für die Eltern. „In der Kinderoptometrie sind die Eltern wichtige Partner, aber beim Termin vor Ort stehen bei mir die Kinder im Mittelpunkt.“ Mit den Eltern führt sie bereits vor dem Termin eine Anamnese durch. Der Hintergrund: Die Solingerin versucht, wann immer es geht, Gespräche mit den Eltern über die Probleme des Kindes beispielsweise beim Lesen oder beim räumlichen Sehen vor diesem zu vermeiden. Alle Schwierigkeiten und, wenn vorhanden, die Diagnosen werden im Anamnesebogen abgefragt, den die Eltern bereits bei der Terminvereinbarung erhalten. Ist dieser ausgefüllt, schicken die Eltern ihn vor dem Termin an die Optometristin zurück. „Bei Rückfragen rufe ich die Eltern auch noch mal an“.
Wir versorgen gerne die speziellen Fälle.
Hoher Leidensdruck bei Kindern und Eltern
Für die optometrischen Untersuchungen bei den Kindern nehmen Eltern laut der Inhaberin weite Wege auf sich. „Die Kinder, die zu uns kommen, haben meist irgendwelche Schwierigkeiten im Kindergarten oder in der Schule wie eine Lese Rechtschreib- Schwäche, Dyskalkulie oder motorische Einschränkungen. Oft ist ein hoher Leidensdruck vorhanden.“ Für Natalizi ein Grund mehr, den Kindern zu helfen. Sie sieht ihren Betrieb mit sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerne als „Versorger für die speziellen Fälle“. Da ihr Betrieb sowohl Spezialkontaktlinsen als auch Low Vision anbiete, sei die Kinderoptometrie nur die logische Konsequenz gewesen. Dennoch: Ihrer Meinung nach könne man Kinderoptometrie nicht einfach nebenher machen. Das entsprechende Fachwissen spiele eine große Rolle. Eine gute optometrische Grundausbildung und Erfahrung mit der Optometrie bei Erwachsenen seien von Vorteil.
Für unabdingbar hält es die 40-Jährige aber, dass man sich fachlich und anatomisch gut auskenne und genau wisse, wie das Sehen funktioniere, damit man in kurzer Zeit ohne Erklärungen die notwendigen Tests durchführen kann. „Bei Kindern hat man in der Regel keine Zeit zu überlegen – aufgrund der kürzeren Aufmerksamkeitsspanne der Kleinen gilt es, zügig zu arbeiten“. Während man Erwachsenen erklären könne, dass man eine Messung noch mal wiederholen will, weil die Werte oder Darstellung nicht ganz eindeutig sind, habe man beim Kind nur eine Chance. Ihr Knowhow hat sich die Solingerin bei der Weiterbildung zur WVAO-Kinderoptometristin angeeignet. Diese hat sie sogar zweimal absolviert, weil die Referenten unterschiedliche Ansätze hatten und sie auf diese Weise zusätzlichen Input bekam.
Ich arbeite gerade mit ihrem Kind und ich möchte, dass Sie sich heraushalten.
Fachexpertise ist das A und O
Neben fachlichem Wissen braucht man laut der Inhaberin eine „Antenne für Kinder“. Innerhalb kurzer Zeit müsse es gelingen, Vertrauen zu Kindern aufzubauen. Denn viele Kinder schauten sich im Refraktionsraum erst einmal nur um und antworten schüchtern kein Wort. Ihr Tipp: Oft gelingt es, kleinere Kinder mit den Handpuppen zu einem Gespräch zu bewegen. „Wenn man gut mit Kindern kann, dann sind die Kinder und deren Eltern die dankbarsten Kunden, die man haben kann“; schwärmt Natalizi, „und es macht Spaß, die Fortschritte zu beobachten und zuzusehen, wie die Kinder aufwachsen“. Als Mutter zweier Kinder weiß sie aber auch, wie wichtig es ist, den Spagat zwischen Verständnis und Professionalität hinzubekommen. Heißt: Einerseits den Sorgen der Eltern Raum zu geben, aber Rückgrat zu zeigen, wenn diese beim Sehtest laufend ihr Kind korrigieren, das gerade die Begriffe Drei- und Viereck verwechselt. Dann müsse man auch mal sagen: „Ich arbeite, gerade mit ihrem Kind und ich möchte, dass Sie sich heraushalten“.
"Gerade bei jüngeren Kindern sind die Handpuppen eine große Unterstützung". Fuchs Erika und die Drachen Hans und Felix Ferdinand warten geduldig im Regal auf ihren Einsatz.
Schlechte Augenvorsorge bei Kindern
Oftmals muss sie aber auch als Art Psychologin fungieren, weil die Eltern sich sehr großen Druck machen, Angst haben, etwas falsch zu machen und bereits viel gelesen und gegoogelt haben. „Hier muss man sagen: ‚Jetzt setzen Sie sich mal hierhin und trinken einen Kaffee, in der Zwischenzeit kümmere ich mich um ihr Kind und dann sehen wir weiter.‘ “Einer der Gründe für den Druck, den sich die Eltern machen, sei die schlechte Augenvorsorge bei Kindern in Deutschland. Wenige Tage nach der Geburt werden im Krankenhaus Hörtests gemacht, aber es werde nicht in die Augen geleuchtet. „Immer wieder kommen Kinder zu mir, die einseitig sehbehindert sind, weil keiner gemerkt hat, dass ein Auge nicht richtig schaut. Das ist einfach sehr schade. Wenn eine höhere Sensibilität für die Augenvorsorge herrschen würde, hätte man vielleicht – wenn man es rechtzeitig erkannt hätte – etwas machen können“.
Daher bietet sie den werdenden Eltern unter ihren Kunden an, nach der Geburt zur Prüfung der Augen vorbeizukommen. Bei Babys könne man vieles an den Reflexen erkennen. Leider trauten sich immer noch zu wenige Augenärzte und Augenoptikerinnen an das Thema Baby heran. „Ich finde, man kann eher einem Baby eine Brille machen als einem Sechsjährigen, denn bei einem Baby geht es nicht darum, dass es eine hundertprozentige Sehleistung hat und dass die Werte auf eine Viertel Dioptrie stimmen. Es geht vielmehr darum, dass sich das Sehen entwickeln kann.“
Alles außer Visualtraining
Grundsätzlich bietet sie im Solinger Betrieb das breite Spektrum der optometrischen Messungen bei Kindern von der klassischen Visus- und Refraktionsbestimmung bis hin zur Myopieprävention an. „Einzige Ausnahme: Wir machen kein Visualtraining“. In diesem Bereich arbeitet die Augenoptikermeisterin eng mit Kollegin Elfi Scheuer in Dortmund zusammen. Diese Kooperation ist nur eine von vielen. Natalizi ist bestens vernetzt in Solingen und Umgebung und verfügt über Kontakte zu diversen Ergotherapeuten und Ärzten. „Augenoptikerinnen und Augenoptiker sind keine Mediziner und Kinder gehören, wie ich finde, in regelmäßigen Abständen zur medizinischen Kontrolle zum Augenarzt.“ Gerade beim Thema Myopie- Management arbeite sie mit einer befreundeten Ärztin Hand in Hand. „Es gibt verschiedene Wege, Myopie-Management zu betreiben. Grundsätzlich bin ich ein großer Freund von Kontaktlinsenversorgungen. Wenn die Kinder das mitmachen, ist das die beste Lösung. Ist die Progression allerdings so groß, dann schicke ich die Kinder gerne zu einer befreundeten Augenärztin. Die wiederum pflegt enge Kontakte zu einer Uniklinik, an der dann unter Umständen eine Atropintherapie durchgeführt wird.“
Maximal 60 Minuten
Die Termine für Kinder im Solinger Betrieb dauern nie länger als 60 Minuten. „Nach diesem Zeitraum ist bei allen die Luft raus. Wenn ich vorher merke, dass die Kinder nicht mehr können, brechen wir ab und machen einen neuen Termin“. Denn manchmal haben die Kinder an diesem Tag schon viel erlebt, sodass eine vernünftige Arbeit mit ihnen nicht möglich sei. Daher macht sie am liebsten die Termine mit den Babys, Klein- und Kindergartenkindern vormittags und die mit Grundschulkindern am Samstag oder in den Ferien. Schüler in der weiterführenden Schule sind ihrer Erfahrung nach meist in der Lage, auch nach einem Schultag noch einen Termin zu absolvieren. Zum Beispiel den Termin in Solingen mit der Brillenauswahl, bei der für die Augenoptikermeisterin vor allem der Geschmack des Kindes, fachliche Faktoren und die Anpassbarkeit der Brille eine Rolle spielen. Danach geht es für alle Beteiligten die 25 Stufen der Treppe wieder nach unten in das Erdgeschoss des Ladens und der Besuch bei der Kinderoptometristin ist beendet.