Mit Rechenbeispielen

Low Vision: Formeln zur optimalen Versorgung

Die Anforderungen und Erwartungen an das Sehen in der Bevölkerung sind hoch – das zeigen unter anderem Studien und Umfragen vieler Glashersteller. Doch was passiert, wenn selbst die beste Brille nicht mehr die gewünschte Leistung liefern kann? Für Menschen mit starken Seheinschränkungen sind vergrößernde Sehhilfen oftmals die einzige Lösung. DOZ-Autorin Nicole Albering geht im Folgenden auf die verschiedenen Möglichkeiten ein und erläutert anhand von Rechenbeispielen, wie Vergrößerung und Dioptrien ermittelt werden.
Eine alte Dame nutzt eine Lupe, um ein Buch zu lesen

Für Menschen mit starken Seheinschränkungen sind vergrößernde Sehhilfen oftmals die einzige Lösung.

© AdobeStock / Stefanie Baum

Erstveröffentlicht in der DOZ 04I24

Seit einigen Jahren ist der Begriff „Low Vision“ in der Augenoptik weit verbreitet. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff „eingeschränkte Sicht“. Gemeint ist damit der Überbegriff „Sehbehinderung“. Aber nicht nur die Minderung beziehungsweise der Verlust der Sehschärfe ist hiermit gemeint, sondern auch die Beurteilung der noch vorhandenen Sehfunktionen in der Ferne und der Nähe, die Berechnungen des Vergrößerungsbedarfs und individuelle Auswahl sowie die Anpassung einer vergrößernden Sehhilfe.

Gutes und deutliches Sehen ist Voraussetzung für ein unabhängiges Leben ohne Einschränkungen. Wenn aber die Brille oder die Kontaktlinsen die Sehkraft nicht ausreichend verbessern, der Gang in den Supermarkt nur noch mit Hilfe anderer möglich ist oder die Buchstaben der Zeitung nicht mehr zu erkennen sind, wird uns bewusst, wie wichtig gutes Sehen ist

Alterserscheinungen beim Auge

Mit zunehmendem Alter verändert sich unser Körper, die Haare werden grau, die Gelenke nutzen sich ab. Nicht ausgenommen davon ist auch der Alterungsprozess unserer Augen. Die Produktion der Tränenflüssigkeit kann sich reduzieren und es kommt zu einem trockenen Auge. Die Muskeltätigkeit nimmt ab, was dazu führt, dass die Pupillen sich nicht mehr ganz so schnell auf veränderte Lichtverhältnisse einstellen können. Die Augenlinse verliert an Elastizität, sie wird härter, wodurch das Akkommodationsvermögen abnimmt.

Bei manchen altersbedingten Veränderungen am Auge stellen sich mit Hilfsmitteln (Brille oder Kontaktlinsen), Therapien (zum Beispiel Augentropfen) oder Operationen (beispielsweise Katarakt-OP) eine Sehverbesserung ein. Doch manchmal ist trotz aller Bemühungen keine Steigerung der Sehleistung möglich. 

Der Unterschied zwischen Fehlsichtigkeit und Sehbehinderung

Nun stellt sich die Frage, was der Unterschied zwischen einer Fehlsichtigkeit und einer Sehbehinderung ist. Bei einer Fehlsichtigkeit ist das Auge gesund, jedoch liegt eine Art „Baufehler“ vor. Das Auge ist im Vergleich zu dem emmetropen Gullstrand-Auge zu lang oder zu kurz, hat ein Brechwertdefizit oder einen Brechwertüberschuss. Eine Fehlsichtigkeit kann durch Brillengläser oder Kontaktlinsen korrigiert werden. Eine Visussteigerung ist möglich. Dagegen ist eine Sehbehinderung eine pathologische Veränderung des Auges, der Sehbahnen oder des Sehzentrums. Mit Brillengläsern oder Kontaktlinsen erfolgt keine Visussteigerung. Ein einfacher Test, ob eine Fehlsichtigkeit oder eine Sehbehinderung vorliegt, ist unter anderem die Anwendung der Lochblende. Erkennen die betroffenen Personen den größten Buchstaben auf der Sehprobentafel nicht, sollte die Lochblende vor das Auge gehalten werden. Bei einem myopen, hyperopen oder astigmatischen Auge wird mindestens eine leichte Schwärzung erkannt. Andernfalls liegt eine Sehbehinderung vor.

Nach der Versorgungsmedizinischen Verordnung wird zwischen Sehbehinderung, hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit unterschieden (siehe Tabelle 1). Gesichtsfelddefekte (z.B. Hemianopsie, vergrößerter blinder Fleck, Zentralskotom, tunnelförmige Einschränkung des peripheren Gesichtsfelds) beeinflussen zusätzlich den Grad der Sehbehinderung. [1-3]

Tabelle Grad der Sehbehinderungen
© Nicole Albering
Tabelle mit möglichen Ursachen einer Sehbehinderung
© Nicole Albering

Alles steht und fällt mit der Anamnese

Bei der Low-Vision-Versorgung ist eine gute und ausführliche Anamnese der Grundpfeiler für den gewünschten Erfolg. Hier ist zu bedenken, dass ein Großteil der Low-Vision-Betroffenen älter als 65 Jahre ist. Dabei ist die Krankengeschichte genauso wichtig wie Fragen nach der Psyche, aber auch dem sozialen Umfeld.

  • Liegen körperliche Bewegungseinschränkungen vor?
  • Wie ist die Orientierung im Raum und im Freien? 
  • Lebt die betroffene Person allein?
  • Wie ist der emotionale Zustand?
  • Welche Wünsche bestehen bezüglich des Sehens?
  • Ist es die erste oder eine folgende Low-Vision-Versorgung?

Nach der Anamnese erfolgt die Ermittlung verschiedener Daten, beginnend mit dem Visus in der Ferne, bei bestkorrigiertem Brillenglas Visuscc. Bei sehbehinderten Menschen bietet es sich an, die Prüfentfernung zu verkürzen. Gleichzeitig muss ein Akkommodationsausgleich berücksichtigt werden. Wird die Sehprobentafel zum Beispiel auf einen Meter Abstand zum Auge positioniert, beträgt der Akkommodationsausgleich +1,00 Dioptrien (dpt). Nach der Refraktion muss dieser jedoch wieder entfernt bzw. von den ermittelten Daten abgezogen werden. Danach wird der genaue Visus mit folgender Formel berechnet:

Formel zur Visusberechnung
© Nicole Albering

Rechenbeispiel:

Während der Refraktion wird die Sehprobentafel in zwei Metern Entfernung gehalten, obwohl sie für sechs Meter ausgerichtet ist. Hierbei kommt ein Visus von 0,6 heraus. Welchen Visus hat der Proband tatsächlich?

Rechenbeispiel Visus
© Nicole Albering

Nach der Umrechnung von der Istentfernung auf die Sollentfernung entspricht der tatsächliche Visus nur noch 0,2.

Ermittlung des Vergößerungsbedarfs

Wenn der Visus cc bekannt ist, kann der Vergrößerungsbedarf ermittelt werden. Um am sozialen Leben teilnehmen zu können, ist es für Sehbehinderte wichtig, die Tageszeitung, Broschüren, den Beipackzettel von Medikamenten oder Formulare lesen zu können. Auch das Fernsehen, Kartenspielen mit Freunden oder Handarbeiten tragen zum allgemeinen Wohlbefinden und dem gesellschaftlichen Dazugehören bei. Im Optimalfall wird bereits während der Anamnese die Haupt-Wunschentfernung festgelegt.

Vergrößerungsformel
© Nicole Albering

Der Visusbedarf (Visussoll) richtet sich nach der Sehaufgabe. [4]

Visus richtet sich nach Sehaufgabe
© Nicole Albering

Rechenbeispiel:

Der bestkorrigierte Visus eines Kunden beträgt 0,1. Er möchte die Tageszeitung lesen können. Welche Vergrößerung benötigt er?

Vergrößerungsbedarf Rechenbeispiel
© Nicole Albering

Lösung:

Um die Tageszeitung lesen zu können, benötigt der Kunde eine fünffache Vergrößerung.

Mithilfe des Vergrößerungsbedarfs ist es möglich, das passende Low-Vision-Hilfsmittel zu finden. Für geringe Vergrößerungen (etwa zweifach) kann eine Lupe gewählt werden. Lupen sind Linsen oder Linsensysteme, die eine Pluswirkung besitzen. Das entstehende Bild ist virtuell, aufrecht und vergrößert.

Normalvergrößerung durch Bezugs- und Brennweite

Um die maximale Vergrößerung zu erzielen und fernakkommodiert durch die Lupe schauen zu können, muss 

  • die Bezugsweite (Entfernung Auge zum Objekt) 0,25 m betragen,
  • der Abstand Lupe zum Auge der Brennweite f/f´ der Lupe entsprechen und
  • das Objekt sich im objektseitigen Lupenbrennpunkt F befinden.

Dies entspricht der Normalvergrößerung. Der Benutzer betrachtet nicht das tatsächliche Objekt, sondern das Bild, das von der Lupe erzeugt wird.

Formel zur Berechnung der Normalvergrößerung
© Nicole Albering

Rechenbeispiel:

Die Brechkraft einer Lupe beträgt 12,00 dpt. Welche Normalvergrößerung besitzt diese Lupe?

Rechenbeispiel Normalvergrößerung
© Nicole Albering

Lösung:

Die Lupe besitzt eine dreifache Normalvergrößerung.

Katalogvergrößerung

Manche Hersteller verwenden bei der Vergrößerungsangabe die Katalogvergrößerung. Hier müssen zwei Bedingungen erfüllt werden.

  • Die Lupe muss so dicht wie möglich an das Auge gehalten werden.
  • Die Einstellentfernung muss der Bezugsweite entsprechen.

In Anlehnung an die Normalvergrößerungsformel beträgt die Bezugsweite 0,25 m.

Formel der Katalogvergrößerung
© Nicole Albering

Rechenbeispiel:

Berechnen Sie die Katalogvergrößerung einer Lupe mit einer Brennweite von 0,08 m.

Rechenbeispiel Katalogvergrößerung
© Nicole Albering

Lösung:

Die Katalogvergrößerung beträgt 4,125.

Das Galilei- und das Kepler-Fernrohr

Lupen gibt es in vielen verschiedenen Ausführungen. Hier sind nur einige genannt: Handlupen, Lesestäbe, Hellfeldlupen, Umhängelupen, Standlupen, Klemmlupen, Lupen mit und ohne Beleuchtung oder elektronische Lupen. Wenn eine bis zu zweifache Vergrößerung für die Kundin ausreichend ist, kann eine Lupe genutzt werden. Bei höheren Vergrößerungen muss ein anderes System gewählt werden, da sich mit Erhöhung des Vergrößerungsbedarfs der Arbeitsabstand verkürzen und sich das Sehfeld stark einschränken würde. Daher nicht vergessen: Die Vergrößerung so gering wie möglich und so hoch wie nötig wählen!

Galilei-Fernrohr

Abb. 1: Galilei-Fernrohr

© Nicole Albering
Kepler-Fernrohr

Abb. 2: Kepler-Fernrohr

© Nicole Albering

Fernrohr- bzw. Fernrohrlupensysteme bieten eine gute Ergänzung bei der Wahl des Hilfsmittels für die Low-Vision-Versorgung. Zu unterscheiden sind zwei Systeme: das Galilei- und das Kepler-System. Allgemein gilt, dass das Fernrohr ein afokales System ist. Es hat keine sammelnde oder streuende Wirkung. Die Lichtstrahlen treten parallel in das Fernrohr ein und parallel wieder aus. Somit dient das Fernrohr-System der Fernkorrektur.

Beim Galilei-Fernrohr ist das Objektiv eine Sammellinse und das Okular eine Zerstreuungslinse. Die Brennweite der Zerstreuungslinse ist kleiner als die der Sammellinse. Der okularseitige Brennpunkt der Pluslinse und der objektivseitige Brennpunkt der Minuslinse fallen zusammen.

Das Okular und das Objektiv des Kepler-Fernrohrs sind Sammellinsen. Das Okular besitzt eine kleinere Brennweite als das Objektiv. Der okularseitige Brennpunkt der Objektivlinse fällt mit dem objektseitigen Brennpunkt der Okularlinse zusammen.

Um verschiedene Arbeitsabstände in der Nähe zu erreichen, muss ein Akkommodationsausgleich erfolgen. Dies wird durch einen Lupenaufsatz erreicht.

Formel für Lupenaufsatz
© Nicole Albering

Rechenbeispiel:

Frau Meier hat aufgrund ihrer Sehbehinderung ein Fernrohr-Lupen-System nach Galilei-Bauart von ihrem Augenarzt verschrieben bekommen. Um lesen zu können benötigt sie eine Gesamtvergrößerung von 4. Das Fernrohr besitzt eine zweifache Vergrößerung. Welchen Brechwert hat der Lupenaufsatz?

Rechenbeispiel Lupenaufsatz
© Nicole Albering

Lösung:

Der Brechwert der Aufstecklupe muss 8,00 dpt betragen.

Beim Blick durch ein Fernrohrlupensystem wird das Sehfeld erheblich eingeschränkt. Bleiben wir bei Frau Meier: Auf dem System stand der Maßstab 120 : 1.000. Der Arbeitsabstand ergibt sich aus dem Kehrwert des Lupenbrechwertes und ergibt somit 0,125 m.

Zusammenfassung: Formel zur Ermittlung des Sehfeldes
© Nicole Albering

Zentrierung und Sitz von großer Bedeutung

Das Sehfeld ist massiv eingeschränkt, sodass bei der Anpassung die Zentrierung und der Sitz des Systems ganz exakt erfolgen sollte. Außerdem ist ein ausführliches Beratungsgespräch von großer Bedeutung. 

Durch das kleine Sehfeld ist das Unfallrisiko zum Beispiel beim Treppensteigen oder bei auf dem Boden liegenden Dingen extrem hoch. Beim Lesen muss der Kopf jeder Blickbewegung folgen.

Außer den Lupen oder den Fernrohr-/Fernrohrlupensystemen gibt es noch elektronische Sehhilfen in der Low-Vision-Versorgung. Auf diese geht dieser Artikel nicht näher ein. Und obwohl spezielle Kantenfilter und Leuchten im Zusammenhang mit diesem Thema stehen, wurden diese bewusst nicht erwähnt, da dies zu weit geführt hätte.

Fazit

Wir Menschen werden immer älter, unsere Lebenserwartung steigt. Mit zunehmendem Alter lässt jedoch die Sehkraft nach. Manchmal wird diese so schlecht, dass nur noch mit einer Low-Vision-Versorgung der Alltag gemeistert oder das geliebte Hobby ausgeübt werden kann. Eine Untersuchung beim Augenarzt ist die Grundlage, der Augenoptiker der Ansprechpartner und Anpasser von optischen Hilfsmitteln. So individuell wie der Mensch ist auch dessen Hilfsmittelversorgung. Es gibt viele Möglichkeiten, einer Sehbehinderten zu helfen. Manchmal ist auch die Wahl zweier oder mehrerer Systeme für verschiedene Arbeitsentfernungen bzw. Tätigkeiten nötig. Bereits die elektronische Lupe kann reichen, um die Tageszeitung zu lesen. Für die Handarbeit ist jedoch zusätzlich ein Fernrohrlupensystem notwendig.

Jede Low-Vision-Versorgung hilft dem sehbehinderten Menschen, sich ein Stück Selbstständigkeit und Lebensqualität zu erhalten


Quellen und Literatur

[1] https://www.ingolstadt.de/output/download.php?fid=2789.887.1.PDF
[2] https://www.dein-hilfexpert.de/behinderung/sehbehinderung/
[3] Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) v. 10. Dezember 2008
[4] https://www.eschenbach-vision.com/de-DE/augen-sehen/ vergroesserungsbedarf
[5] Low Vision von Andreas Schaufler, DOZ, Ausgabe von 2013
[6] Sehen im Alter, Herausgeber Blindeninstitutsstiftung, Kohlhammer Verlag, 1. Auflage 2022
[7] Der Low-Vision-Katalog von Schweizer-Optik, März 2017

Portrait Nicole Albering
© Nicole Albering

Autorin: Nicole Albering

ist Augenoptikmeisterin und Dozentin an einer Meisterschule in Karlsruhe im Fach „Optik und Technik der Sehhilfen“ sowie an der Berufsschule in Bruchsal im Bereich „Augenoptik“.