Welche Rolle spielt Augengesundheit im Fußball?
So dürften einige Fußballer ihre Mitspieler sehen. Denn: Unkorrigierte Sehfehler sind im Fußball keine Seltenheit.
Erstveröffentlicht in der DOZ 08I24
Der Aufschrei war groß, als im EM-Achtelfinale zwischen Dänemark und Deutschland nach einem vermeintlichen Handspiel die VAR-Technik entscheidend zum Einsatz kam. Denn unmittelbar nach einem wegen Abseits zurückgenommenen Treffer der Skandinavier sprach der Schiedsrichter der DFB-Elf ebenfalls nach Videobeweis einen Handelfmeter zu. Kai Havertz brachte die Deutschen damit auf die Siegerstraße. Noch lauter war vermutlich der Handspiel-Aufschrei im Viertelfinale gegen Spanien (aber dieses heiße Eisen soll an dieser Stelle nicht thematisiert werden). Wenn man die Technik zulässt, dann muss man es auch mit aller Konsequenz tun, würde manch einer sagen.
Ob mit oder ohne VAR – die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter stehen auf dem Feld unter hohem visuellen Stress, da sie das Spielgeschehen kontinuierlich und präzise beobachten müssen. Eine optimale Sehfähigkeit ist für sie unerlässlich und so empfiehlt die Fédération Internationale de Football Association (FIFA), dass sich Schiedsrichterinnen mindestens einmal jährlich einem umfassenden Sehtest unterziehen sollten. Schiedsrichter der ersten drei Bundesligen werden entsprechend jedes Jahr im Rahmen einer sportmedizinischen Untersuchung auf ihre Sehschärfe und ihr Farbsehen geprüft. Das geben die Regularien des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL) vor. Bei den Landesverbänden sieht es etwas anders aus: Hier ist die Entscheidung Ländersache. Die Mehrheit der 21 Verbände hat allerdings keine Vorgaben dazu in ihrem Regelwerk, sodass Sehtests bei Schiedsrichtern oft ausbleiben.
Keine einheitlichen Vorschriften vom DFB
Und bei den Spielern? Einzelne Vereine haben die Wichtigkeit von Augenüberprüfungen zwar erkannt und schicken ihre kickenden Angestellten regelmäßig zur Augenoptikerin oder zum Augenarzt, eine einheitliche Regelung auf Bundes- oder Ländereben aber gibt es nicht. Der DFB verzichtet auf eine Vorschrift, Profifußballerinnen und -fußballer im Rahmen der sportmedizinischen Untersuchung auf die Sehkraft hin zu untersuchen. Auf der Website des Dachverbands wird lediglich im Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden auf einen Facharzt für Augenheilkunde verwiesen: „In der Regel kommen Fußballer meist nicht mit diesem Facharzt in Kontakt. Doch bei Verletzungen der Augen bzw. im Bereich der Augenhöhle ist dieser der richtige Ansprechpartner.“ Darüber hinaus „kann eine routinemäßige Untersuchung ebenfalls Sinn machen. Denn nicht wenige Fußballer spielen mit einem Sehfehler, ohne von diesem zu wissen. Eine kleine Untersuchung kann hier Abhilfe schaffen.“
Nicht wenige Fußballer spielen mit einem Sehfehler, ohne von diesem zu wissen.
Einzelne Studien decken Sehdefizite unter Spielern auf
Nimmt man den DFB beim Wort, weiß dieser um die unentdeckten bzw. unkorrigierten (Seh-)Schwächen im Fußball. Und auch die Wissenschaft bestätigt: Der Fußball spielt nicht in der augenoptischen Profiliga – zumindest lässt die eher dünne Studienlage darauf schließen. So hat zum Beispiel Dr. Gernot Jendrusch von der Ruhr-Universität in Bochum im Rahmen einer visuellen Leistungsdiagnostik insgesamt Fußballprofis von zwei Bundesligamannschaften im Hinblick auf ihre Sehleistung untersucht. Er kam zu dem Ergebnis, dass jeder Fünfte von ihnen den Sport fehlsichtig oder mit nur unzureichender – von der Qualität her schlechter – Korrektion ausübte. Obwohl etwa zehn Prozent der Profifußballer im Alltag eine Sehhilfe für den Fernbereich (Brille = 33 %; Kontaktlinsen = 67 %) trugen, übte über ein Drittel von ihnen ihre Sportart unkorrigiert aus.
Die Initiative „Vision@sports“ der Ernst-Abbe- Hochschule Jena hat sich zum Ziel gesetzt, über die Korrektion von Sehfehlern bei betroffenen Leistungsund Spitzensportlern aufzuklären und die entsprechenden Zielgruppen, darunter Verbände, Sportmedien oder auch die Sportler selbst, auf das Thema aufmerksam zu machen. Unter der Federführung von Professor Wolfgang Sickenberger wurden dafür Profimannschaften aber auch Einzelsportler untersucht, wie beispielsweise die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Frauen oder das Bundesligateam des VfB Stuttgart (Informationen zu den Stationen des Sehzirkels finden Sie in der August-Ausgabe ab Seite 54). Bei der Frauen-Nationalelf wurde Optimierungsbedarf bei einem Drittel der Spielerinnen festgestellt. Bei den Screenings des Stuttgarter Teams kam heraus, dass 20 bis 40 Prozent der Spieler einen Sehfehler aufwiesen, die teilweise eine erhebliche Korrektur oder Optimierung erforderten. Zwei der insgesamt 46 Spieler hatten einen Visus von weniger als 0,63 und fünf lagen unter 1,0. „Im Fußball macht das Training nach wie vor 90 Prozent des Leistungsvermögens aus, aber es lohnt sich dennoch, leistungsdiagnostische Bausteine wie dieses Augenscreening regelmäßig in die tägliche Arbeit zu integrieren, um das ein oder andere zusätzliche Prozent abrufen zu können“, bilanzierte der damalige VfB-Cheftrainer Bruno Labbadia.
Auch Fußballer plädieren für Sehtests
Neben Fachexperten aus der Augenoptik sprechen sich, ähnlich wie Labbadia, Persönlichkeiten aus dem Fußball selbst immer wieder für Augenüberprüfungen aus. Der ehemalige englische Profi Ian Wright hat beispielsweise 2019 in einer Kampagne mit dem britischen Optikerriesen Specsavers für regelmäßige Sehtests unter Fußballern plädiert. Oder auch der Nordire Brendan Rodgers, Fußballtrainer bei Celtic Glasgow, der in Interviews betonte, dass Sehtests Teil der medizinischen Untersuchung sein sollten.
Trotzdem bleiben (unkorrigierte) Sehschwächen auf dem Fußballfeld bisher keine Seltenheit. Viel eher herrscht eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Bedeutung der Augengesundheit für den Fußballsport und deren praktischer Umsetzung in der Versorgung. Einige Vereine wissen sich zumindest mit anderen „Sehhilfsmitteln“ teilweise zu helfen – auch wenn diese natürlich nicht die Sehkraft an sich verbessern. Eines davon ist das Trikot. Grundsätzlich ist das Kleidungsstück dazu gemacht, um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Verein deutlich zu machen und um auf dem Spielfeld von Mitspielerinnen, Schiedsrichtern und Fans auseinandergehalten werden zu können. Es kann aber noch mehr: Der Bundesligist SC Freiburg zum Beispiel entschied sich im Heimspiel gegen den FC Augsburg 2021 bewusst für seine gelben Ausweichtrikots, um der Rot-Grün-Sehschwäche eines Spielers entgegenzuwirken. Normalerweise hätten die Breisgauer in ihren üblichen roten Shirts gespielt. Da aber die Gegner in grünen Trikots auftraten, wechselten sie kurz vor Anpfiff ihre Oberteile – und verließen den Platz mit einem 3:0-Sieg.