Designer über die Brille der Zukunft
In den Blind Girl Paintings des Künstlers Julian Schnabel findet zum Beispiel Renato Montagner, Creative Director des itatlienischen Brillenherstellers Thèlios, Inspiration bei seiner Zukunftsvision.
Erstveröffentlichung in der DOZ 01|2025.
Rund. Panto. Oval. Karree. Butterfly und Pilotenform. Die Klassiker des Fassungsdesigns gibt es in vielen Variationen. Designen aber heißt, Produkte zu verbessern, sie weiterzuentwickeln oder neu zu gestalten. Auch in der Eyewear. Mit Visionen, die neue nutzerorientierte Funktionen und zukunftsweisende Ästhetik zusammenbringen – mit intelligenten, nachhaltigen Materialien und Formen. Das Vorstellungsvermögen reicht weit. So kann man fest davon ausgehen, dass die Brille zukünftig mehr sein wird als eine bloße Sehkorrektur – sie wird ein zentraler Bestandteil unserer digitalen und sozialen Interaktion. Dank technologischer Fortschritte in den Bereichen Augmented Reality (AR), Künstlicher Intelligenz (KI) und Materialwissenschaften (MW) könnten zukünftige Brillen eine Vielzahl von Funktionen über das klassische Sehen hinaus bieten. Ein Blick in die Glaskugel lässt inspirierende Ideen entdecken.
Die menschliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellen
Renato Montagner, Architekt und Creative Director von Tag Heuer Eyewear, ist bekannt für seine visionären Ansätze. Seine Inspiration zieht er unter anderem aus den Blind Girl Paintings des Künstlers Julian Schnabel, die junge Mädchen mit einem Balken über den Augen zeigen und damit die menschliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellen. Montagners Vision einer Brille im Jahr 2050 ist ein Hybride aus Kunst, Technologie und Medizin. Die Brille wird, so der Designer, nicht mehr nur ein optisches Hilfsmittel sein, sondern durch hochentwickelte Mikrokameras und Algorithmen das Gesehene in Echtzeit verarbeiten und filtern. Diese Technologie könnte etwa unerwünschte Bilder ausblenden oder Kontraste verstärken, um das Seherlebnis zu optimieren. Gleichzeitig könnten integrierte Sensoren Vitalwerte und Emotionen analysieren, die über subtile Farbänderungen an den Nutzer zurückgemeldet werden. „Tatsächlich würde ich nicht mehr unbedingt von ,der Brille‘ sprechen“, sagt Renato Montagner. „Es wird Technologien geben, die mit unseren Augen interagieren, die es möglich machen, unseren Gesundheitszustand und unsere Stimmung durch unsere Augen zu lesen. Es wird gefiltert, was unsere Augen sehen, nicht nur die Sonnenstrahlen, auch Dinge, die uns umgeben. Wir sind oft mit Bildern überlastet. Neue Technologien werden es uns ermöglichen, durch die Wechselbeziehung und Kommunikation mit unseren Augen die Welt anders zu sehen.“ Ein weiteres Ziel seiner Vision: weniger, aber besser. Montagner setzt auf langlebige, durchdachte Produkte, die nicht nur technisch überzeugen, sondern auch der Umwelt zugutekommen. Seine Designphilosophie orientiert sich dabei an den Prinzipien des deutschen Industriedesigners Dieter Rams: Materialgerechtigkeit, Klarheit und einfache Bedienbarkeit. Nachhaltigkeit spielt hierbei eine zentrale Rolle. Zukünftige Brillen sollen mit minimalem Materialaufwand maximale Funktionalität bieten, um die Wegwerfmentalität zu durchbrechen. „Was die Integration von Funktionen in Brillen betrifft, gilt: Je weniger Technologien wir hinzufügen, desto besser ist das Produkt, das wir konzipieren. Das Ergebnis am Ende muss sein: Weniger, aber besser sehen“, findet Renato Montagner.
R. Montagnes Vision: „Brillenrahmen'“
„Das Konzept beginnt mit dem Produkt, der bewussten Materialreduktion“
Sven Götti, Brillendesigner und Inhaber des Schweizer Unternehmens Götti, könnte sich vorstellen, mit seinem Projekt Circular neue Maßstäbe in Sachen Nachhaltigkeit und Individualisierung zu setzen. Die Idee dahinter: ein Brillensystem, das vollständig auf Wiederverwendbarkeit und Ressourcenschonung ausgelegt ist. Das Projekt erfolgt nach dem Motto „Keine Abfälle, aber immer eine gute Sicht!“. „Das Konzept beginnt mit dem Produkt, der bewussten Materialreduktion“, erklärt Götti. Kern des Projekts ist die Verwendung eines einzigen, hochstabilen und flexiblen Materials, das im Falle von Beschädigungen problemlos recycelt werden kann. „Die Brille besteht konsequent nur aus der Brillenfront, zwei Bügeln und einem schraubenlosen Scharnier.“ Kunden können ihre alten Fassungen in Götti-Brandstores zurückgeben, wo das Material vor Ort pulverisiert und in neue Brillen umgeformt wird. Dieser Ansatz reduziert Transportwege und Abfälle auf ein Minimum. „Aus einer Auswahl von Fassungen wird die neue Lieblingsbrille ausgewählt, die mit vor Ort gefertigten Korrekturgläsern verglast wird“, erklärt Götti die genaue Vision. „Die im 3D-Druckverfahren hergestellten Brillengläser verfügen über einen integrierten Autofokus. Mit Hilfe eines Gesichtsscans wird die Passform der Brille optimiert. Alle Elemente der Brille können unkompliziert angepasst werden, da diese an Ort und Stelle im augenoptischen Fachgeschäft hergestellt werden. Glasgröße, Stegbreite, Bügellänge und selbst Nasenpads ermöglichen so eine Individualisierung der Brille und sorgen für höchsten Tragekomfort.“ Die Vision von Götti zeigt, dass Nachhaltigkeit und Hightech kein Widerspruch sind. Hier wird der Kreis zwischen Material, Produktion und Wiederverwendung geschlossen. Durch die lokale Produktion in sogenannten Circular Stations können Brillen nicht nur ressourcenschonend, sondern auch zeitnah für die Kunden gefertigt werden.
„Circular Station“: Lösungsansatz für das Zukunftsthema Nachhaltigkeit.
Solche Brillen könnten Smartphones ergänzen oder ersetzen
Nach Beate Leinz, Inhaberin von Leinz Eyewear, wird die Brille der Zukunft eine perfekte Verbindung von Technik, Funktion und Ästhetik sein. „Ich denke schon, dass sich das Design der Fassungen auch zukünftig an klassische, vertraute und bei Kundinnen und Kunden bewährte Brillenformen anlehnt.“ Doch zugleich könnten diese Designs durch innovative Technologien revolutioniert werden. Zentrale Neuerungen sieht Leinz in Brillengläsern, die ultraflache, biegsame LCD-Paneele enthalten. Diese ersetzen geschliffene Gläser und projizieren Informationen direkt ins Sichtfeld. Eye-Tracking-Technologie erkennt, wohin der Träger blickt, und löst Funktionen aus. Ein intelligenter Ring könnte durch einen Doppelklick diese Auswahl bestätigen. Ergänzt wird die Brille durch Solar-Paneele zur Energieversorgung und einen Chamäleon-Effekt: Die Fassung passt sich automatisch der Kleidung des Trägers an und wird so zum modischen Accessoire. Mit der technologischen Revolution ändern sich auch die Gestaltungsprinzipien. Ohne schwere Korrekturgläser werden Fassungen leichter und filigraner. Gleichzeitig könnten IT- und Tech-Unternehmen enger mit Brillenherstellern kooperieren, um neue Produkte zu entwickeln, die IT-Funktionalität und modisches Design vereinen. Solche Brillen könnten Smartphones ergänzen oder ersetzen – und zugleich ein Fashion-Statement setzen. Doch Leinz stellt sich die Frage: „Wie lange wird es noch Liebhaberinnen und Liebhaber für ,analoge‘, kunstvoll gestaltete und aufwendig produzierte Brillen geben?“ Traditionelle Designs stehen für Individualität und Handwerkskunst, doch jüngere Generationen könnten zunehmend digitale Formen bevorzugen. Die Brille von morgen wird nicht nur ein Werkzeug sein, sondern ein Ausdruck von Persönlichkeit und Innovation. Für Augenoptiker birgt diese Entwicklung große Herausforderungen – und ebenso große Chancen, ihre Kunden mit visionären Produkten zu begeistern.
Das Modell „Censur“ besteht aus zwei Formen in jeweils drei Farben.
„I‘m perfect“
Besondere Designs kreiert auch die Design Eyewear Group, deren Anspruch es ist, Ästhetik mit technischem Know-how zu verbinden, wie in dem experimentellen Projekt mit dem Titel „Dance“, das künstlerische Visionen und Designinnovationen zusammenbringt. Unter der Leitung von Cathrine Haugerud, Head of Global Creative Direction, entstanden die Modelle „I‘m perfect“ und „Censur“ als Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen dem französischen und dänischen Designteam des Unternehmens. „Design ist das Herz unseres Unternehmens. Für uns beginnt die Zukunft mit jeder neuen Kollektion, jedem neuen Konzept,“ betont Haugerud. Die Dance-Initiative ermöglichte den kreativen Teams, ohne Einschränkungen durch Marken- oder Produktkonzepte zu experimentieren, und wurde von kulturellem Erbe und den jeweiligen Designphilosophien inspiriert. Das Modell „I‘m perfect“ basiert auf der japanischen Wabi-Sabi-Philosophie, die Schönheit in Unvollkommenheit sieht. Diese Ästhetik greift die Brille durch gezielte Imperfektion und Asymmetrie auf: Ein Tropfen Gold zieht sich entlang einer Bruchstelle und macht den Riss zum Gestaltungselement. Sie ist in Goldgalvanik mit grauen Gläsern, Silbergalvanik mit auberginefarbenen Verlaufsgläsern und Goldgalvanik mit Goldgläsern erhältlich. Das Modell „Censur“ betont Widerstandsfähigkeit und Zerbrechlichkeit. Es ist in zwei Formen und drei Farben verfügbar: mattem Schwarzmetallic mit grünen Gläsern, glänzendem Gold kombiniert mit mattem Schwarz und Blaumetallic mit schwarzen Gläsern. „Unsere Unvollkommenheiten und unsere Fehler sind der wertvollste Teil von uns. Zerbrechlichkeit wird zu Stärke, zur Philosophie,“ sagt Haugerud. Die Dance-Kollektion ist eine Hommage an kreative Synergien und die Schönheit grenzenlosen Designs – ein Zeugnis dafür, was entsteht, wenn Designteams ihre Energien freisetzen. Diese Kollektion zeigt, wie kulturelle und ästhetische Einflüsse futuristische und avantgardistische Designs prägen, die gleichzeitig modisch und inspirierend sind.
Das Modell „I‘m perfect“ ist in Goldgalvanic mit grauen Gläsern, Silbergalvanic mit auberginefarbenen Verlaufsgläsern und Goldgalvanik mit Goldgläsern erhältlich.
Eine neue Ära im Brillendesign
Für die freischaffende Brillendesignerin Laura Rattaro beginnt der Blick in die Zukunft mit einem Blick zurück. Dabei hebt sie ein revolutionäres Material hervor: Optyl. „Optyl eröffnete eine noch nie dagewesene Freiheit des Ausdrucks an Formen und Größen. Freiheit ist also das Schlüsselwort für das Fassungsdesign gestern, heute, morgen: Freiheit in den Formen, den Volumen, den Farben.“ Das innovative Kunststoffmaterial brachte in den 1970er Jahren eine neue Ära im Brillendesign ein. Anders als Zelluloid oder Acetat erlaubte es größere gestalterische Freiheit. Rattaro sieht darin ein Beispiel, wie sich technische Innovationen nachhaltig auf Designästhetik und Funktionalität auswirken. Zur Veranschaulichung ihrer Vision greift Rattaro auf zwei historische Modelle aus Optyl zurück, die für Christian Dior entworfen wurden. Sie betont: „Welche Designerin, welcher Designer auch immer das damals gezeichnet hat, ist durch Raum und Zeit gereist. Beide Modelle zeigen für mich vor allem eines: Bei einem guten Design sollte immer der Mensch im Mittelpunkt stehen, für unser Produkt die Brillenträgerin, der Brillenträger. Komfort und visuelles Wohlbefinden müssen an oberster Stelle stehen, ohne dass der ästhetische Aspekt deshalb weniger wichtig wird.“
Die Entwicklung bis 2050
Rattaro betrachtet Design als zeitlosen Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie sieht in den Epochen des 20. Jahrhunderts stilistische Markierungen: Die romantische Verspieltheit der 1950er Jahre, die revolutionäre Suche nach neuen Formen in den 1960ern und die Materialexperimente der 1970er. Diese Phasen zeigen, wie Ästhetik und gesellschaftliche Entwicklungen miteinander verwoben sind. Auch für die Zukunft erwartet sie Innovationen bei Materialien und zusätzlichen Funktionen. Doch aus ästhetischer Sicht bleibt die Vergangenheit ein wichtiger Bezugspunkt. „Das Design der Vergangenheit, insbesondere das der 1970er Jahre, war so sehr Zukunft, dass ich es für 2050 und darüber hinaus als perfekt ansehe!“ Wird die heutige Zeit in der Lage sein, ikonische Designs hervorzubringen, die in Jahrzehnten noch Bestand haben? Die Antwort wird die Zeit zeigen. Die vorgestellten Konzepte zeigen, wie vielfältig die Zukunft der Brillenindustrie sein kann und könnte. Ob durch technologische Innovationen, künstlerische Ausdrucksformen oder nachhaltige Produktionsweisen – die Brille wird sich den Visionen nach bis 2050 von einem reinen Sehwerkzeug zu einem multifunktionalen Designobjekt entwickeln. Für Augenoptiker eröffnet diese Entwicklung neue Möglichkeiten, Kunden mit visionären Produkten zu begeistern und gleichzeitig einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Zukunft zu leisten. Die Brille von morgen wird nicht nur unser Sehen verändern – sie wird die Welt verändern, wie wir sie sehen.
„Die Fassung ‚Dior Grün‘ würde ich als ein ‚botanisches‘ Design bezeichnen. Die Verwendung des Materials Optyl wird zu einer organischen Form, die den Eindruck erweckt, sie bestünde aus pflanzlichen Elementen - lebendig, perfekt in ihrer Einzigartigkeit.“ Laura Rattaro