MEHR(wert) für ALLE - Teil 1

Auge
Durchblick bei der "Gleitsicht"
© Andrea Sedlak

Das Gleitsichtglas ist der Umsatztreiber in der Augenoptik. Die Brillenglashersteller bieten den Augenoptikern in regelmäßigen Abständen immer modernere Gleitsichtglas­Typen an. Aber auch ohne diese neuen Technologien, mit deren Möglichkeiten zur Individualisierung des Brillenglases auf das jeweilige Auge, muss ein Augenoptiker am Ball bleiben, um den Durchblick bei der „Gleitsicht“ zu behalten. Die DOZ wird weiterhin immer mal wieder ein Auge auf das Gleitsichtglas werfen. Diese Artikelserie geht auf die stetig anwachsenden Parameter und ihre Zusammenhänge bezüglich des Tragekomforts und des subjektiven Trageempfindens ein.

Die modernen Gleitsichtgläser bieten uns Augenoptikern bei der Anpassung eine Vielfalt an Möglichkeiten; sofern diese Möglichkeiten (und auch mitunter die möglichen Probleme) denn bekannt sind. Heutzutage können in den Bestellungen von Gleitsichtgläsern bereits persönliche Parameter des künftigen Trägers aufgenommen und auch Schwerpunkte hinsichtlich der Lebenssituation des Kunden gesetzt werden. Doch wie beeinflussen sich diese Parameter untereinander und wie werden Veränderungen, die daraus entstehen, vom Träger des Gleitsichtglases wahrgenommen? Vor allem im Bereich des „Troubleshootings“ ist man gefordert, unter der Fülle der verschiedenen möglichen Ursachen die Richtige zu erkennen. Diese Artikelserie geht auf die stetig anwachsenden Parameter und ihre Zusammenhänge bezüglich des Tragekomforts und des subjektiven Trageempfindens ein.

Die Progressionslänge ist mit Sicherheit der bekannteste Parameter und einer, der auch schon seit langem individuell festgelegt wird. Doch schon alleine die Definition stellt eine gewisse Herausforderung dar, da sie keiner Norm oder Nomenklatur unterliegt. So kann es durchaus passieren, dass bei einem Produktwechsel mit gleicher Progressionslänge unterschiedliche technische Definitionen zugrunde liegen. Eine vom Hersteller definierte Progressionslänge von zum Beispiel 16 Millimetern ist somit nicht über alle Produkte mit dem gleichen Verständnis zu sehen. Richtig schwierig wird eine Übersetzung dann, wenn vom Hersteller nur noch Angaben wie S / M / L oder XL angegeben werden. Daher wird das Wissen über die Definition der dahinter liegenden Eigenschaften immer wichtiger, denn die Entscheidungen, die Sie als Augenoptiker bei der Anpassung und Progressionswahl treffen, sind wesentliche Faktoren für die Kundenzufriedenheit.

Hersteller wählen oft fixen Bezugspunkt

Aus technischer Sicht definiert die Progressionslänge den ersten Additionsanstieg bis zu jenem Punkt, an dem die gewünschte Addition erstmalig erreicht wird (Abb. 1). Manche Hersteller bezeichnen diese Strecke auch als Kanallänge. In der Praxis – und der Einfachheit halber – gehen aber viele Hersteller von einem fixen Bezugspunkt aus, wie zum Beispiel dem Fernzentrierkreuz oder dem Prismenbezugspunkt. Diese Längendefinition gibt aber keinen Aufschluss über die tatsächliche technische Progressionslänge.

Progressionslänge
Abb. 1: Die Progressionslänge aus technischer Sicht.

Betrachten wir das anhand eines Beispiels (Abb. 2): Beide Gläser A und B haben eine „Progressionslänge laut Preisliste“ von 16  mm, bezogen auf das Fernzentrierkreuz bis zum Nah­Messpunkt. Der tatsächliche Progressionskanal verläuft allerdings bei beiden Produkten unterschiedlich. So erreichen zwar beide Gläser am selben Punkt die volle Addition, der Weg dorthin ist aber unterschiedlich definiert. So beginnt bei Glas A die Progression unmittelbar im Fernzentrierkreuz, bei Glas B aber erst beim Prismenbezugspunkt. Wird ein Gleitsichtglasträger nun von Produkt A auf B umgestellt, so stellen sich hierbei zwei wesentliche Hürden dar:

Das Glas B hat eine kürzere technische Progressionslänge als Glas A. Aus dieser Tatsache heraus wird beim Glas B der maximale Astigmatismus höher liegen und der Sehkanal enger sein. Je nach physiologischer Wahrnehmung des Trägers wird er diesen höheren Astigmatismus als vermehrten Schaukeleffekt bemängeln, oder aber über einen engeren Zwischenbereich klagen.

Unterschiedliche Kanallängen
Abb. 2: Unterschiedliche Kanallängen bei gleicher vom Hersteller angegebenen Progressionslänge.

Mit Glas A gut, mit Glas B unterversorgt

Des Weiteren kann es sein, dass er sich auf ein neues Sehverhalten umstellen muss, da sich nun unterschiedliche Wirkungen für das gewohnte Sehverhalten ergeben (Abb. 3). Ist der Verbraucher daran gewöhnt, bei Glas A 1,33  dpt seiner Addition bei 5,8 mm zu erreichen – gemessen vom Fernzentrierkreuz (Anpassung Pupillenmitte / Nullblickrichtung) – so erreicht das Glas B die 1,33 dpt Addition erst bei 7,5 mm. War der Brillenträger mit Glas A gut und richtig versorgt, wird er nun mit Glas B unterkorrigiert. Damit dieser Träger seine gewohnten 1,33  dpt Add. erreicht, muss er den Kopf anheben, was nicht mehr seinem vorigen Seh­ und Körperverhalten entspricht. Der Grund für die unterschiedlichen Definitionen liegt oft in der gewachsenen Firmengeschichte und den zugrundeliegenden Berechnungsprogrammen; beziehungsweise sind auch unterschiedliche länderspezifische Definitionen zu erkennen. Hat ein Unternehmen einmal den Weg eingeschlagen, seine Progressionslänge immer vom Fernzentrierkreuz oder Prismenbezugspunkt aus festzulegen, wird es dies meist auch über alle weiterführenden Produkte beibehalten.

Wirkungsverlauf
Abb. 3: Wirkungsverlauf bei unterschiedlichen Progressionsverläufen.

In einigen Fällen lassen sich diese Daten aus den Preislisten herauslesen. Hilfreich ist dabei immer, einen Blick auf die Durchmesserschablonen zu werfen, wie auch die empfohlenen Mindesteinschleifhöhen genauer unter die Lupe zu nehmen. Diese Parameter geben den objektivsten Aufschluss, um eine einheitliche Übersetzung zu finden.

Natürliche Tragesituation berücksichtigen

Progressionslängen können heute von kurz bis lang bestellt werden – verschiedene Zentrier­ und Anpassungstools helfen dabei, die individuelle Progressionslänge des zukünftigen Gleitsichtglasträgers zu ermitteln. Versucht man nun auch noch die natürliche Tragesituation beim Vermessen zu erhalten, wird man feststellen, dass fassungsunabhängig unterschiedliche Progressionslängen notwendig werden. Wird für Gleitsichtgläser die richtige Brillenfassung gewählt, lässt sich in den meisten Fällen auch die persönliche Progressionslänge umsetzen.

Ausnahmefälle gibt es bezüglich ergonomischer Sondersituationen oder sehr schmaler Brillenfassungen. Möchte ein Kunde beispielsweise auf seine schmale Brillenfassung in Kombination mit Gleitsichtgläsern nicht verzichten, sind zu Beginn einige Punkte zu überlegen und gemeinsam mit dem Träger dann die entsprechenden Prioritäten zu setzen. Ein Gleitsichtglas ist ein Kompromiss, jedoch nicht kompromisslos! In der kommenden Ausgabe erfahren Sie, welche refraktiven Veränderungen ein Gleitsichtglasträger in der Peripherie kompensieren muss und in welchem Ausmaß sich Additionsänderungen und Design­änderungen auswirken.

Autorin: Andrea Sedlak, Augenoptiker- und Kontaktlinsenmeisterin, Qualitätsmanagementbeauftrage
Nach der klassischen Augenoptikerausbildung und einigen Jahren als Kontaktlinsenanpasserin dominierte bei Andrea Sedlak das fachliche Interesse an der Brillenglaserzeugung den Werdegang und bildet heute die fundierte Basis für die Consulting-Tätigkeit im Bereich Herstellung und Entwicklung von Brillengläsern. Der berufliche Fokus liegt bei der Österreicherin auf der Weiterentwicklung von Brillenglasproduktionen bis hin zu innovativen Produktentwicklungen, Schulungen und Vorträgen zu diversen Fachthemen.

Alle Grafiken: Andrea Sedlak