Nachgefragt bei Wolfgang Wesemann: „Kein Grund zur Panik“
Myopiekontrolle. Kurzsichtigkeitsepidemie. Seit geraumer Zeit wird die Entwicklung der Myopie in der Publikumspresse diskutiert, in der Fachpresse analysiert, in diversen Studien seit Jahren untersucht und erforscht und von der Industrie zunehmend mit neuen Produkten und Produktideen begleitet. In dieser Ausgabe stellen wir die neue Kontaktlinse von CooperVision vor, die zur Myopiekontrolle auf den Markt gebracht wurde. Und in der kommenden Ausgabe lesen Sie, was alles bei einer Implementierung der Myopiekontrolle in der täglichen Praxis zu beachten ist. Wer unterliegt einem besonderen Risiko und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Immer wieder ist bei der Aufmerksamkeitsgewinnung für das Problem stark gestiegener Kurzsichtigkeiten (quantitativ und auch was den Grad der Myopie angeht) von einem weltweiten Anstieg zu hören. Vor allem in Asien steigt die Zahl der hochgradig kurzsichtigen Menschen an und damit auch die Zahl der von Augenerkrankungen bedrohten Bevölkerung. Aber wie sieht das in Deutschland aus, treffen die Studien auch hierzulande zu? Die DOZ fragte dazu bei PD Dr. Wolfgang Wesemann nach, der unter anderem eine Analyse der Fehlsichtigkeit in Deutschland im Zeitraum 2000 bis 2015 durchgeführt hat. In diesem Zusammenhang widmete sich der ehemalige Direktor der Höheren Fachschule für Augenoptik Köln (HFAK) speziell auch der Frage, ob es eine Zunahme der Myopie in diesem Zeitraum in Deutschland gegeben hat.
DOZ: Herr Dr. Wesemann, wird da gerade eine Sau durchs Dorf getrieben oder sind die Kontaktlinsenhersteller erfreulicherweise besonders früh dran, geeignete Produkte für die Volksgesundheit zu entwickeln?
Dr. Wolfgang Wesemann: Sie sind früh dran, aber natürlich sollte man versuchen, etwas gegen die Zunahme der Myopie zu tun. Das Brian Holden Institut hat 2016 noch einmal Hochrechnungen vorgestellt, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Kurzsichtigkeit in allen Teilen der Welt häufiger wird. Aber, der Anstieg ist sehr unterschiedlich.
Sprechen Sie von dem üblicherweise in diesem Zusammenhang genannten Gefälle zwischen Asien und Europa?
Europa ist deutlich weniger anfällig für Kurzsichtigkeit und in Deutschland gibt es derzeit keine Myopieepidemie. Weder was die Häufigkeit der Kurzsichtigkeit noch was deren Grad angeht. Das gilt auch für andere Länder in Nordeuropa. Ein Beispiel: Bei einer aktuellen Untersuchung von Rekruten in Seoul, Südkorea, fand man heraus, dass 96 Prozent von ihnen kurzsichtig waren, in Dänemark waren es 12,8 Prozent. In Korea hatten von diesen Menschen 22 Prozent eine Myopie von mehr als sechs Dioptrien, in Dänemark waren es 0,3 Prozent. In Asien sorgt die rasche Technisierung und Modernisierung mitsamt den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen für den enormen Anstieg. Wir wissen auch, dass Lesen Kurzsichtigkeit fördert – und die anstrengenden Schulsysteme und Ganztagsschulen in Asien leisten ihren Beitrag.
Wie sieht es in Deutschland aus? Eine Epidemie gibt es nach Ihren Worten nicht, aber die Zahl der Myopen kann ja dennoch steigen.
Das war auch bis Ende der 1980er Jahre der Fall. Ich habe für dieses Interview noch einmal die Zahlen aus den Brillenstudien des Kuratoriums Gutes Sehen (KGS) analysiert, die seit 1952 bis heute erhoben wurden. Hier habe ich die Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen betrachtet, weil bei ihnen die Kurzsichtigkeit bereits entwickelt ist und sie noch nicht alterssichtig sind. In dieser Altersgruppe trugen 1952 nur elf Prozent der Bevölkerung eine Brille. Bis 1990 stieg die Quote auf 30 Prozent. In diesen Zeitraum fällt auch die Bildungsoffensive in Deutschland. Seitdem ist die Prozentzahl aber nicht mehr weiter gestiegen.
Das heißt, Myopieprophylaxe ist in Deutschland Unsinn?
Das möchte ich so nicht sagen, aber man muss das in den richtigen Zusammenhang setzen. Alle Experten auf diesem Gebiet sind sich sicher, dass es in Zukunft durch die Digitalisierung unseres Lebens einen erneuten Anstieg der Myopie geben wird. Wie sich das in Deutschland letztlich entwickelt, können wir seriös erst in einigen Jahren sagen. Man wird es nach meiner Meinung aber nicht schaffen, die Myopie mit optischen Hilfsmitteln zu verhindern. Es geht immer nur darum, den Endwert der Myopie zu minimieren damit das Risiko von späteren Augenerkrankungen möglichst klein wird.
Also sind die Produktentwicklungen der Industrie durchaus willkommen, wenngleich deren Nutzen umstritten ist?
Umstritten ist vielleicht das falsche Wort, aber die Erfolgsquote ist vermutlich eher mäßig, zumal die Erfolgsmessung schwierig ist. Nicht jeder spricht auf Kontaktlinsen zur Myopiekontrolle an. Für Eltern ist es zudem ohnehin schwierig, Kinder frühzeitig mit Linsen zu versorgen. Trotzdem sind multifokale Kontaktlinsen zur Myopiekontrolle eine gute Sache, denn wenn man erreicht, dass ein Schulkind nicht acht Dioptrien, sondern nur vier Dioptrien kurzsichtig wird, verringert man das Risiko einer späteren Netzerkrankung um das Zehnfache!
Grundsätzlich ist die Myopiekontrolle also ein zukünftig zunehmend wichtiges Thema, aber in Deutschland dürfen wir gelassener damit umgehen?
In Deutschland ist die Zahl der Hochmyopen viel geringer als in Asien. Bei uns haben 8,2 Prozent der über 30-jährigen Myopen eine starke Brille mit mehr als minus sechs Dioptrien. Außerdem gibt es auch bei uns viele Kinder, deren Eltern hochgradig myop sind. Für sie, beziehungsweise deren Eltern, ist es sehr sinnvoll, über Maßnahmen zur Verlangsamung der Kurzsichtigkeit nachzudenken. Kontaktlinsen können das für Einzelne leisten, aber es gibt ja noch andere erfolgversprechende Mittel. Es ist ganz sicher notwendig, das Thema zu beachten und geeignete Hilfsmittel intensiver zu erforschen, aber es besteht auf der anderen Seite für uns hier in Deutschland kein Grund zur Panik.
Die Fragen stellte Ingo Rütten
Weitere Informationen finden Sie auch auf dem "The Myopia Care Blog".