Tour der Sinne

Das Auge eines anderen sein

Fernreisen oder gar Wandertouren für Blinde und Sehbehinderte, autonomes Reisen nahezu ohne Einschränkungen – all das ist möglich mit der richtigen Reiseleitung, ausgesuchten barrierefreien Routen und motivierten Begleitern. Um selbst zu erleben, wie es sich anfühlt, Teilnehmer einer solchen Reise zu sein, hat DOZ-Autorin Claudia Büdel (noch vor der Corona-Pandemie) an einer Schnuppertour der Sinne teilgenommen.
Blinde erkunden Stadtplan durch Fühlen

Bei der Tour de Sens erkunden Sehbehinderte und Sehende gemeinsam eine Stadt.

© Claudia Büdel / DOZ

„Hallo, ich heiße Claudia und ich sehe!“ Eine nicht alltägliche Vorstellungsrunde läutet die vor uns liegende „Tour der Sinne“ durch Wiesbaden ein. Hier begegnen sich Sehbehinderte und Sehende auf gemeinsamen Reisen, um eine Stadt zu erkunden und natürlich auch vom anderen zu lernen. Zwei Dinge werden schnell klar: Zum einen habe ich diese scheinbare Selbstverständlichkeit – Sehen zu können – noch nie benennen müssen. Zum anderen klingt es irgendwie gewöhnungsbedürftig, als Blinder an einer „Stadtbesichtigung“ teilzunehmen. Die Begleitung der Teilnehmer mit Hilfsbedarf ist heute die Aufgabe für uns Sehende.

Dass aber nicht nur Sehbehinderte von barrierefreien Reisen profitieren, davon ist Laura Kutter, Geschäftsleiterin von „Tour de Sens“, überzeugt. Von der kurzen Schnuppertour wie diese durch Wiesbaden über kleinere Touren durch Deutschland bis hin zum mehrwöchigen internationalen Urlaub wird jede erdenkliche Reise angeboten. Auch als sehender Teilnehmer profitiert man von Inhalten, die die nicht-visuellen Sinne ansprechen, wie Verköstigungen, Konzerte, Naturerlebnisse oder Geruchsführungen und nimmt durch das Umherschauen und die eigenen Beschreibungen das Erlebte deutlich intensiver wahr.

 

Einige Dinge gibt es zu beachten

Eine Frage umtreibt mich schon vor dem Start: Wie schwer wird es werden einen bis dahin unbekannten Menschen durch für uns neues Terrain zu führen? Was es zu beachten gilt, erklärt unsere Reiseleitung: „Bietet immer ganz locker den Arm an, warnt, wenn ein stechendes Insekt geflogen kommt, macht auf Stufen, Tritte, Stolpersteine, Pfützen, aber auch Hindernisse in Kopfhöhe aufmerksam und platziert im Restaurant das Getränk nicht unkommentiert vor der blinden Person.“ Auch empfiehlt es sich, im Innenstadtgedränge immer einen kleinen Schritt voraus zu sein und den Blinden nicht vor sich her zu schieben. Beim Erzählen bewährt sich ein einfacher Trick: Die Situation einfach so beschreiben, als wäre man am Telefon und suche beispielsweise einen möglichen Treffpunkt.

Während des Tages wechseln die sehenden Teilnehmer ihre Begleiter, um mit jedem einmal in Kontakt zu treten. Ich werde zuerst einem geselligen jungen Mann zugeteilt. Ich bedanke mich für sein Vertrauen, worauf er schmunzelnd meint, dass ich das schon schaffen werde und er ja noch seinen Stock habe. Gleich zu Beginn müssen wir an einer Ampel eine viel befahrene Straße überqueren und in den Bus einsteigen. Erstes Erfolgserlebnis: es klappt direkt gut mit uns beiden. Das erste Etappenziel ist die Marktkirche, die evangelische Hauptkirche Wiesbadens. Heute aufgrund der fünf hohen Türme, des neugotischen Stils und vor allem der für die Region untypischen Backsteinvertäfelung geschätzt, wurde sie zu Zeiten der Erbauung (1853 – 1862) dafür eher kritisiert. Um die Kirche herum finden regelmäßig Veranstaltungen und Märkte statt, sodass kein Wiesbadener seine Marktkirche mehr missen möchte. Hier steht für viele der Höhepunkt der Tour an und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Nach 280 engen Stufen aufwärts, die alle Teilnehmer – ob sehend oder nicht – ein wenig fordern, finden wir uns im Kirchturm wieder.

 

Gruppenbild der Tour de Sens-Teilnehmer

Gruppenbild der Tour de Sens-Teilnehmer

© Claudia Büdel / DOZ

Der Kantor informiert über die Geschichte der Kirche und des Carillons und lässt die blinden Teilnehmer sogar die Glocken läuten. Anschließend lauschen wir einem der wenigen handgespielten Turmglockenspielen Deutschlands. Von rund 250 Glockenspielen in Deutschland funktionieren die meisten rein automatisch, bei rund 40 kann ein Carillonneur selbst Hand anlegen oder es ist, wie beim Wiesbadener Carillon, beides möglich. Wir stehen inmitten des Instruments mit seinen 49 Glocken; unter uns die tiefen Kirchturmglocken und über uns die kleinen für die hohen Töne. Vor allem beim Anschlagen der 2,2 Tonnen schweren c1-Glocke vibriert der ganze Turm und die Schwingungen ziehen durch den ganzen Körper.

Bevor wir die Kirche wieder verlassen, darf das aufwendige Legomodell der Kirche noch befühlt werden. Die Blinden interessieren sich vor allem für die Fassade der Kirche und die eingangs von der Reiseleitung beschriebenen Fensterformen, ertasten diese und fahren mit den Fingern langsam die Kirchtürme empor, um sich eine Vorstellung von deren imposanter Höhe zu machen.

Auch der Geschmackssinn wird angeregt

Nach dem Abstieg wird es Zeit den Geschmackssinn anzusprechen und sich bei einer Wein- beziehungsweise Traubensaftprobe und hessischen Tapas kulinarisch verwöhnen zu lassen. Das Zusammensitzen wird rege genutzt, um Fragen an die Sehbehinderten zu stellen und zu hören, wie sie den Alltag meistern. Der Austausch untereinander ist ein grundlegendes Element des inklusiven Reisekonzepts. Der Preis pro Teilnehmer variiert je nach Anforderung. Der Grundbetrag der Reise erhöht sich, wenn Eins-zu-Eins-Hilfe benötigt wird, auf der anderen Seite müssen Sehende, die sich als Begleiter anmelden, weniger zahlen. Grundsätzlich ist es aber auch möglich, bei der Tour der Sinne als Gast ohne besondere Aufgaben mitzumachen. Von dieser Option machen beispielsweise Sehbehinderte Gebrauch, die zwar keinen Begleiter benötigen, aber auch niemanden führen können, oder aber neugierige Sehende, die das Konzept kennenlernen wollen, ohne direkt als Begleiter tätig zu werden. Unsere kleine Gruppe, geführt von der auf barrierefreies Reisen spezialisierten Leiterin, setzt sich bei der Tour durch Wiesbaden aus zwei Blinden, einer Sehbehinderten sowie vier Sehenden zusammen.

Versuchen übrigens Letztere anfangs darauf zu achten, nicht von „Schau mal“ oder „Augen offenhalten“ zu sprechen, werden die Gespräche schnell unverkrampfter, weil man merkt, wie entspannt die Betroffenen mit der sehr visuellen deutschen Sprache umgehen. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Als wir uns nach der Weinprobe erheben wollen, sagt die Reiseleiterin, dass es draußen dunkel aussehe. Die prompte Antwort eines blinden Teilnehmers: „Für mich sieht es draußen immer dunkel aus!“ Weiter geht es durch die Stadt. Wir Sehenden beschreiben, die Sehbehinderten und Blinden nutzen zudem die taktilen Stadtpläne, um den Aufbau der Stadt zu erfühlen. Außerdem werden Säulen umarmt, um sich deren Ausmaße vorzustellen, und auch andere Details ertastet.

 

Tour der Sinne Teilnehmer erkundet Therme

Ein Tour de Sens-Teilnehmer beim Erkunden der Wiesbadener Therme.

© Claudia Büdel / DOZ

Im Foyer der Kaiser Friedrich Therme, unserem nächsten Halt, angekommen, hätte vermutlich jeder sofort mit verbundenen Augen erraten, wo wir uns befinden. Das Klima einer Therme ist Hinweis genug. Anschlussstation ist der Kochbrunnen, der alle Sinne anspricht. Vom Geruch des Schwefels über das Spüren der heißen Temperatur des Wassers, das Ertasten der Brunnenverzierung, das Plätschern des Brunnens bis hin zum Schmecken des Wiesbadener Heilwassers. Die letzte Station ist schließlich das für Wiesbaden so prägende und als Freiluftbühne bekannte „Bowling Green“. Die Reiseleitung beschreibt detailliert die Szene, bevor wir schließlich am taktilen Modell unsere Tagestour beenden.

Fazit: Ein Erlebnis auch für Augenoptiker

Auch wenn dem Augenoptiker von Berufs Sehbehinderung und Blindheit bekannt sind, ist es eine intensivere Erfahrung, einen oder mehrere Tage mit Betroffenen zu verbringen. Insofern ist eine inklusive Reise eine gute Möglichkeit für Augenoptiker, die sich mehr mit dem Thema beschäftigen oder sich in die Situation der Betroffenen einfühlen wollen. Auch wird ein Fachmann, der seine betroffenen Kunden auf Reiseangebote aufmerksam machen kann, die ihn weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen, sicher in Erinnerung bleiben. Und warum nicht die Reise zusammen mit einem sympathischen Stammkunden antreten? Eine bessere Art der Kundenbindung gibt es wohl kaum.

Mittlerweile gibt es verschiedene Anbieter barrierefreien Reisens. Eine ausführliche Liste finden Sie hier. Die im Text beschriebene Stadtführung wurde von Tour de Sens durchgeführt.

Autor: Claudia Büdel