Erkennt Gesten und Geldscheine, Geschriebenes und Gesichter

Die OrCam sieht für sehbehinderte Menschen

Das Sehen macht rund 80 Prozent unserer Gesamtwahrnehmung aus. Doch was ist mit den Menschen, die sehbehindert oder blind sind? Natürlich verbessern sich die anderen Sinne, aber ausgleichen können sie diesen Verlust trotzdem nicht. Die OrCam MyEye ist eines der Hilfsmittel, das den Betroffenen helfen und wieder mehr Selbstbestimmung zurückgeben soll. Marc Haas, Sales Manager des deutschen Vertriebspartners Help Tech GmbH, war bei der DOZ zu Besuch und initiierte einen Praxistest des Geräts in der Redaktion.
Der Körper besteht aus Puzzleteilen
© Adobe Stock / Julie Boehm

Erstveröffentlichung in der DOZ 08|23

Von der OrCam MyEye hörte ich zum ersten Mal auf der SightCity in Frankfurt – der Messe für sehbehinderte und blinde Menschen. „Dieses Hilfsmittel soll den Menschen wieder mehr Selbstbestimmtheit zurückgeben“, erklärt Marc Haas, Sales Manager des deutschen Vertriebspartners Help Tech GmbH. Die OrCam MyEye ist das neueste Modell des in Jerusalem  ansässigen Herstellers OrCam Technologies Ltd. Aus dem hebräischen übersetzt bedeutet OrCam Lichtkamera (Or = Licht, Cam = Camera) und ist wie der Name schon sagt, eine kleine Kamera, die man mithilfe von Magneten an einen Brillenbügel befestigen kann. Marc Haas wies mich in die Handhabung der OrCam ein und ließ mich in kleinen Teilen sehen und hören, was seine Kunden ihren Alltag nennen. 

Zu Beginn der Einführung sollte ich die Augen schließen und das Gerät erfühlen. Von der Größe und Form her dachte ich sofort an einen MP3-Player. Anders als dieser hat die OrCam allerdings zwei Magnete und das Berührungsfeld besteht aus einem Kreis, von dem ein Strich zu einem Viereck führt. Der Lautsprecher befindet sich auf Höhe des Ohres und an der Vorderseite spürt man die Vertiefung der Kamera sowie zweier LED-Lampen. Nachdem ich die Augen wieder geöffnet habe, schalte ich das Gerät ein und befestige es an der Magnethalterung. Am Anfang merke ich die Gewichtszunahme der Fassung, doch die 22 Gramm rücken schnell in den Hintergrund und verursachen trotz der Planbrille keinen schiefen Sitz. Kunden, die eine Brille mit Sehstärke tragen, können die vier mitgelieferten Magnete an den eigenen Brillenbügeln befestigen. Im Lieferumfang der OrCam ist zudem eine Planbrille mit einer Magnethalterung am Bügel enthalten. Zusätzlich beinhaltet das Paket ein Band, das sich die Trägerin um den Hals legt und mit dem freien Ende an der OrCam befestigt. Sollte die Kamera vom Magnet gelöst werden, fällt sie nicht auf den Boden,  muss dort nicht gesucht werden und entgeht der Gefahr, beschädigt zu werden. 

Mit der Kamera die Welt hören

Ich zeige mit dem Finger auf einen bestimmten Textabschnitt des Flyers in meiner Hand, diesen fotografiert die Kamera und liest dann den Text über das eingebaute Mikrofon vor. Zusätzlich kann ich per Sprachsteuerung die Stimme und Schnelligkeit einstellen. „Lautstärke erhöhen“, „Lesegeschwindigkeit langsamer“ oder „Springe zu Wort XY“, sind nur ein paar der Sprachbefehle, die ich der OrCam geben kann und die die Ansagen direkt umsetzt. Habe ich mal keine Hände frei oder eine Beeinträchtigung, kann ich im Einstellungsmenü die automatische Seitenerkennung aktivieren. Bei dieser Funktion schaue ich ein paar Sekunden auf den gewünschten Text, den ich mir vorlesen lassen möchte und warte bis die OrCam ein Signal gibt und der Text somit abfotografiert ist. Danach startet die OrCam automatisch mit dem Vorlesen und es ertönt immer ein Gong, wenn sie fertig ist.

Ein Manko gibt es hierbei: Die Kamera kann keine handschriftlichen Texte, Noten, Piktogramme oder Bilder erkennen. Während des Sprechens mit Haas erkennt die OrCam den Schriftzug auf seinem T-Shirt und beginnt zu lesen, da die automatische Seitenerkennung noch eingeschaltet ist. „Wie stoppe ich das“, ist meine logische Frage. „Ganz einfach: Man streckt die Hand auf Augenhöhe aus, als würde man jemanden stoppen wollen. Das Gerät erkennt dies und stoppt direkt“, ist Haas einfache Antwort. Wichtig sei hier aber zu beachten, dass die Texte nur kurze Zeit gespeichert sind und dann gelöscht werden, so müsse man den restlichen Text zeitnah zu Ende hören oder erneut fotografieren und vorlesen lassen. „Fairy Ultra 350 ml“, liest die OrCam vor, nachdem ich ihr den Barcode der Spülmittelflasche vorgehalten habe. Laut Haas sind nicht alle Produkte hinterlegt, doch wer seine häufig einzukaufenden Produkte hinterlegen möchte, kann den Barcode auf seinem Gerät selbst abspeichern. 

OrCam Set

Superkräfte im Karton: So sieht das OrCam-Set aus, das jeder Kunde beim Kauf der Kamera erhält. Ob er bereit ist für die „superpowers“, muss er dann selbst entscheiden … 

© DOZ

„Mausi“, „Spätzchen“ oder doch „Simone Nickel“?

Last but not least kann diese smarte Kamera Geldscheine und Gesichter erkennen. Gesichter? „Eine Kundin erzählte mir, dass ihre Freundin ganz empört war, da sie zuvor von ihr auf der Straße nicht gegrüßt worden war“, erzählt Haas von einer seiner Einweisungen. Die Kundin meinte nur: Ich kann die Freundin schlecht grüßen, wenn ich sie nicht sehe.“ Daher haben Anwender der OrCam die Möglichkeit, Gesichter von bis zu 150 Personen im Gerät zu speichern, natürlich verknüpft mit Namen“, berichtet Haas weiter. Die Daten können allerdings nur mit Zustimmung der betroffenen Person gespeichert werden. Dann aber sei die Kamera in der Lage, die gespeicherten Personen bis auf zehn Meter Abstand entfernt zu erkennen.

Meine Kollegin Simone Nickel stellte sich für den Selbstversuch zur Verfügung und musste beim Erfassen ihrer biometrischen Daten ihren Kopf mehrfach in verschiedene Richtungen bewegen. Während der Erfassung der Daten liegt der Finger des Trägers auf dem Bedienfeld und wartet, bis die Auslösetöne erklingen, dann kann der Finger vom Bedienfeld genommen werden. Nachdem ein Ton das Zeichen gibt, nennt man den Namen der eben aufgenommenen Person. Erfasst die Kamera zukünftig das Gesicht, nennt sie  automatisch den gespeicherten Namen. So ist es egal ob man, wie in unserem Fall „Simone“ einspeichert oder einen Kosenamen wie „Mausi“ oder „Spätzchen“. Um die Kamera zu testen, verändert Simone Nickel ihr Aussehen: Sie löst den Zopf zu offenen Haaren und setzt eine verspiegelte Sonnenbrille auf. Trotz dieser Veränderung sagt die OrCam „Simone“. Marc Haas erklärt, warum: „Da hier die biometrischen Daten aus  verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen werden, kann die OrCam die Menschen auch in verändertem Aussehen erkennen. Und auf der Straße kommen die wenigsten Menschen frontal auf einen zu.“ 

OrCam in Benutzung

Augen zu und los. Marc Haas erklärt Autorin Lisa Meinl die Bedienung der OrCam.

© DOZ

„Die Menschen gewinnen wieder mehr Selbstbestimmtheit zurück“

Neben der Gesichtserkennung kann die smarte Sehhilfe auch Farben erkennen. Mit einer pinken Trinkflasche in der einen Hand, zeige ich mit dem Zeigefinger der anderen Hand darauf. Auch hier benennt die OrCam die pinkfarbene Flasche zuverlässig „pink“. Sollten einmal die Lichtverhältnisse nicht ausreichend sein, schaltet sich die eingebaute LED-Lampe automatisch ein. Dadurch sind Aufnahmen der gewünschten Texte und Objekte zu jeder Tages- und Nachtzeit möglich. Ein weiterer Vorteil ist die Orientierungsfunktion. Straßenschilder, Türen oder Tische kann die kleine Kamera bis zu neun Meter entfernt erfassen, erkennen und benennen. „Ein anderer Kunde kann dank der OrCam wieder allein Bahn fahren“, berichtet Haas von einem anderen Fall. „Die Menschen gewinnen wieder mehr Selbstbestimmtheit zurück.“ Preislich liegt das Gerät bei etwas über 4.800 Euro und kann bei der Krankenkasse beantragt werden.

Für Kunden, die nicht so viele Funktionen benötigen, gibt es noch die OrCam MyReader. Diese beinhaltet neben der grundlegenden Gerätetechnik lediglich die Vorlesefunktion und das intelligente Lesen. Alle weiteren Funktionen gibt es nur in der MyEye. Die OrCam MyReader ist bei den Krankenkassen genauso förderungsfähig und kostet rund 3.700 Euro. Help Tech – das in der Firmenzentrale übrigens selbst acht blinde Mitarbeitende beschäftigt – übernimmt für den Augenoptiker die Abrechnung, da das Unternehmen die entsprechende Präqualifizierung besitzt und weiß, was auf den Rezepten vom Augenarzt stehen muss. Jede Augenoptikerin kann grundsätzlich eine OrCam an ihre Kunden verkaufen, die Einweisung übernimmt dann ein Sales Manager wie Marc Haas. Wer jedoch eingetragener OrCam-Partner sein möchte, muss eine Schulung absolvieren und ist danach befähigt, die Einweisungen selbst durchzuführen. 

Die OrCam, wenn sie am Brillenbügel befestigt ist

Die Kamera kann auf beiden Brillenbügeln angebracht werden. Somit kann jeder selbst entscheiden, auf welcher Seite man den Magneten haben möchte.

© DOZ

Ich höre was, was ich nicht sehen kann

Die OrCam MyEye, die ich ausprobieren durfte, überraschte mich positiv. Die vielen Funktionen funktionieren einwandfrei und auch der Selbstversuch, Dinge zu ertasten oder die Nutzung der Sprachsteuerung sind interessante Erfahrungen. Es dauert eine gewisse Zeit, bis man den Ablauf an Sprachbefehlen oder das Nutzen des Bedienfeldes verinnerlicht hat. Ein guter Vergleich ist ein Kunde, der seine erste Gleitsichtbrille bekommt. Auch diesem Kunden sagt der Augenoptiker, dass es etwas Zeit brauchen kann und so ist es auch mit der OrCam. Auch wenn die betroffenen Menschen nichts mehr oder nur noch sehr wenig sehen, haben sie mit der OrCam die Möglichkeit, das zu hören, was sie nicht mehr sehen können.