Fachgeschäft im Tankstellen-Style: Optik Werkstatt Nikolai
Simone und Torsten Klippel haben sich einen Traum erfüllt und ihren Betrieb ganz nach ihren Vorstellungen gestaltet.
Erstveröffentlicht in der DOZ 02I23
Diese Akribie. Diese Detailverliebtheit. Diese Beharrlichkeit. „Hier, diese Schubladen, da waren natürlich früher keine Brillen drin, sondern vermutlich Werkzeuge“, erzählt Torsten Klippel. „Aber von der Breite her passten die ziemlich genau, um drei Reihen Fassungen nebeneinander unterzubringen. Also habe ich einen Dummy aus Holz gefertigt und mit der Kreissäge Schnitte für die spätere Einteilung in Fächer angebracht.“ Nachdem ein Schreiner nach dieser Vorgabe elf Schubladeneinsätze hergestellt hatte, sägte der Augenoptikermeister mit seinen Mitarbeitenden 300 Plexiglasscheiben zurecht, die nun – abgefeilt und sauber poliert – die Schubladen akkurat segmentieren. Im Ergebnis bietet der massive alte Werkzeugschrank jetzt perfekten Platz für fast 300 Brillen und wirkt dabei so, als hätte er sein ganzes erstes Leben nur auf diese Zweitverwertung gewartet.
Ein Unikat, natürlich, im Katalog für Ladeneinrichtung bestellen kann man diesen Trumm von mehreren hundert Kilogramm Gewicht nicht, man muss ihn aufstöbern, im besten Fall von privat über Ebay-Kleinanzeigen, so wie Augenoptikermeister Klippel auch den alten Warenautomaten mit Geldeinwurf, 20 Klappfächern und der Aufschrift „Wähle selbst“ auf diesem Onlinemarktplatz aufgestöbert, erbeutet und „in mühevoller Kleinarbeit im möglichst originalgetreuen Look restauriert“ hat. Soll heißen, dass er die Front mit Stahlwolle bearbeitet, die Fächer erst mit Schmirgelpapier vom Alufraß befreit und dann auf dem Polierbock poliert sowie neue Glasscheiben eingesetzt hat. Stilecht hat Klippel zuletzt den Korpus so gestrichen, dass die abgeschabte Fläche unter dem Geldeinwurf erhalten blieb – Vintage eben.
(Links) Mit ihm hat alles angefangen: Den Warenautomaten, der heute Sonnenbrillen aus den 50er- bis 70er-Jahren offeriert, stöberten die Klippels 2013 zeitgleich mit Beginn der Bauplanung bei Ebay auf. (Rechts) Die "Wohnzimmerecke" mit Werkzeugschrank und Warenautomat.
Freundlicherweise haben auch bei diesem Möbel die Fächer wieder genau die passende Größe, um dort aufgearbeitete Sonnenbrillen in Originalfassungen aus den 50er, 60er und 70er Jahren präsentieren zu können. Wobei einen als Besucher der „Optik Werkstatt Nikolai“ in Kriftel an dieser Stelle zum ersten Mal das Gefühl beschleicht, dass Klippel flunkert, wenn er das Adjektiv „mühevoll“ verwendet. Denn als der 51-Jährige eine D-Mark-Münze für den Betrieb des Warenautomats anreicht, spiegelt sein Gesicht so gar keine Mühe oder Qual, dafür aber einiges an Freude und Stolz wider. Ist er nicht also vielmehr ein Geschäftsinhaber, dem es gelungen ist, seine Leidenschaft in den Arbeitsalltag zu integrieren? Zumindest kann er auf die Frage, wie viel Eigenarbeit er umgerechnet auf seinen Stundenlohn in das Projekt investiert hat, nur unverständig schnauben: „So darf man da nicht drüber denken …“
Unimog-Außenspiegel an der Zapfpistole
Warenautomat und Werkzeugschrank sind ja nur zwei von vielen hundert originalgetreuen Einrichtungsgegenständen, die den Innenraum des Betriebs in der südhessischen Kleinstadt zieren. „Jahrelang haben meine Frau und ich Flohmärkte abgegrast und aus ganz Deutschland Einrichtungsgegenstände herbeigeschafft. Lampen, Sessel, Regale – wir mögen einfach schöne alte Dinge“, erklärt Klippel, „und das wollten wir in den beruflichen Alltag einbringen, damit wir jeden Tag noch mehr Spaß bei der Arbeit haben.“ Spaß, den die Klippels übrigens auch dann haben, wenn dem Besucher beim dritten oder vierten Rundblick durch den 220-Quadratmeter-Laden wieder ein charmantes Detail auffällt, dass er vorher übersehen hat. So zum Beispiel, dass als Spiegel an den Beratungsplätzen originale Unimog-Außenspiegel dienen, die wiederum an ausgemusterte Zapfpistolen montiert sind. Und die damit wieder ganz famos zu Omas Küchentischen und den Cocktail-Sesselchen passen, an und auf denen die Werkstattmitarbeitenden mit ihren Kunden sitzen. Letztere sind von der Atmosphäre bei Nikolai so angetan, „dass sie uns hin und wieder sogar kleine Deko- Objekte mitbringen, wenn sie auf dem Flohmarkt oder auf dem Dachboden darauf stoßen“, freut sich der Inhaber. Der im übrigen die Vermutung hegt, dass er für seine individuell zusammengetragene Einrichtung von den reinen Anschaffungskosten her auch nicht mehr bezahlt hat, als er für eine wertige Gesamtlösung vom Ladenbauer hätte ausgeben müssen. „Die Cocktail- Sessel haben mich zum Beispiel nur 35 Euro pro Stück gekostet. Dafür bekomme ich nichts aus dem Katalog.“
Immer samstags ist bei den Klippels „Casual Saturday“ angesagt – dann kümmern sich die Werkstatt-Mitarbeitenden stilecht im Blaumann um ihre Kunden.
Welche Dimensionen das Gesamtkunstwerk Optik- Werkstatt hat, begreift man allerdings erst, wenn man mit Torsten Klippel zwischendurch mal vor die Tür geht. Dort warten nicht nur die beiden Original-Zapfsäulen aus den 60ern für „Benzin“ und „Super“, eine Kanne zum Nachfüllen von Kühlwasser, zwei Eimer mit Seifenwasser zum Scheibenputzen und einige dekorative Reserve kanister, sondern vor allem eine Architektur, die mit dem ausladenden Vordach, dem geschwungenen Nikolai-Schriftzug und dem halbrunden Seitentrakt von A bis Z den Idealtyp einer klassischen Tankstelle aus der Wirtschaftswunderzeit darstellt. Ganz zu schweigen von dem Werkstatt-Anbau mit den großen Schiebetüren, in dessen Halle mit noch einmal 60 Quadratmetern – und das verwundert jetzt sicher nicht mehr – ein auf Hochglanz polierter Ford Taunus Coupé GXL (für Insider: „Knudsen- Taunus“), Baujahr 1972, auf seine nächste Ausfahrt wartet.
Tankstellen-Laden nicht etwa saniert, sondern neu erbaut
Der Gedanke „da haben die Klippels aber mal Glück gehabt, dass sie diese alte Tankstelle übernehmen und restaurieren konnten“ ist an dieser Stelle naheliegend, zumal die Hattersheimer Straße im weiteren Verlauf Richtung Kriftel-Ortsmitte durch eine Autolackiererei, eine Waschstraße, eine Autoglaserei und einen Zubehör-Shop eine gewisse Sympathie zum Kraftfahrzeug erkennen lässt. Allerdings ist er völlig falsch. Denn Torsten Klippel und Simone Klippel-Nikolai haben ihre Werkstatt nicht saniert, sondern auf dem zuvor lange brachliegenden Grundstück nach eigenen Vorstellungen und Ideen neu bauen lassen (siehe auch Infokasten „Sportlich-fair zum Bauplatz“). Inspiration lieferte ihnen dabei die „Oldtimer-Tankstelle“ in Hamburg, an der sie auf ihren Urlaubsreisen in den Norden Europas regelmäßig Station machten und machen. Bei der handelt es sich indes um eine echte Tankstelle aus dem Jahr 1954, die 1983 stillgelegt und 2010 restauriert und wiedererweckt wurde. „Heute führen die Inhaber sie als Anlaufstelle für Oldtimer-Fans und bieten neben einer spezialisierten TÜV-Prüfstelle auch Stammtische und Marken-Treffen an“, erzählt Simone Klippel.
„Wir hatten gut zu tun. Aber was würde in zehn oder 15 Jahren sein?“
Beim Hamburger Vorbild kann man übrigens tatsächlich auch tanken (oder soll es zumindest bald wieder können); anders als in Kriftel. Dort sind die Zapfpistolen abgeschlossen. „Aber gerade in den ersten Wochen haben bei uns tatsächlich täglich mehrere Leute angehalten und nach Benzin gefragt“, erzählt Klippel, und irgendwann habe sogar jemand vom Eichamt angerufen, der die Liter-Anzeige seiner Messgeräte überprüfen wollte, „aber da bin ich mir bis heute nicht sicher, ob uns da nicht einfach jemand einen Streich spielen wollte …“ In den ersten Wochen, das war konkret im März 2018, als die Klippels nach fünfjähriger Planungs- und Bauzeit an den neuen Standort umzogen. Bis dahin hatten sie ihren Betrieb in einem Ärztehaus in der Krifteler Innenstadt geführt, den der Vater von Simone Klippel dort 1978 eröffnet hatte. „Doch 2013 war das ursprünglich stimmige Konzept dieses Ärztehauses, das für eine dauerhaft hohe Kundenfrequenz gesorgt hat, aus unserer Sicht verwässert“, berichtet die Augenoptikermeisterin. Längst seien nicht mehr alle Einheiten von Ärzten oder Therapeuten genutzt worden, einige Praxen waren zu Wohnungen umgebaut worden und im Erdgeschoss war statt der Apotheke eine Versicherung eingezogen. Die Klippels begannen, sich Gedanken zu machen: „Noch lief es zu der Zeit ordentlich, wir hatten gut zu tun für die fünf Leute, die wir damals waren. Aber was würde in zehn oder 15 Jahren sein?“
Jedes Detail ist durchdacht: Von der Ladentheke mit Sinalco-Bar (links) bis hin zu den Werkstatt- Arbeitsplätzen rund um den Ford Taunus passt die Einrichtung zusammen.
Eine Antwort trauen sich die beiden aktuell schon weit vor Ablauf dieser Zeitspanne zu. Mit dem – zumindest konzeptionellen – Sprung zurück in die Vergangenheit haben sie sich fit für die Zukunft gemacht, davon sind die Klippels überzeugt. Denn einmal ganz davon abgesehen, dass die Reste des ehemaligen Ärztehauses inzwischen komplett zum „Co-Working-Space“ umgewandelt wurden, lagen die Geschäftsinhaber mit dem Umzug und der Neuausrichtung auch sonst richtig. Der Großteil der früheren Klientel sei ihnen treu geblieben, etliche neue Kundinnen hinzugekommen, „davon vermutlich die meisten aufgrund des neuen Konzepts, weil sie irgendwo von unserer Tankstelle gehört oder gelesen haben.“ Bei den Neukunden handelt es sich weniger um Lauf-, als vielmehr um Fahrkundschaft. Aus Würzburg und Norddeutschland schauten schon Oldtimer-Fans vorbei, sogar der seltene Jensen Interceptor, nur knapp 7.000 Mal gebaut, wurde bereits an der Optik-Werkstatt gesichtet. „Man darf auch gerne bei uns nur einen Zwischenstopp auf dem Ausflug machen, in der Wohnzimmerecke einen Kaffee oder eine Sinalco trinken und weiterfahren“, betont Klippel. So manch einer kaufe dann aber doch eine schicke Vintage- oder Sonnenbrille von Jaguar, Carrera oder Playboy. Wirtschaftlich scheint sich das zu rentieren, denn inzwischen ernährt die Optik-Werkstatt sieben Mitarbeitende.
Nachschub für den Automaten
Unter dem Ford Taunus in der Werkstatthalle führt zuletzt eine Treppe in den Keller. Dort wartet noch etliches Material darauf, von Torsten Klippel mit Akribie, Detailverliebtheit und Beharrlichkeit aufgearbeitet, lackiert, entrostet oder wieder gangbar gemacht zu werden. Und in einem Extraraum lagern außerdem dutzende Kartons mit Fassungen aus den 50er, 60er und 70er Jahren. „Mein Schwiegervater hat die zum Glück nicht weggeworfen“, sagt Klippel. Genug Nachschub also für den Warenautomaten, dessen Aufschrift am Ende des Besuchs weniger wie eine Aufforderung an die Kunden sondern eher wie das berufliche Credo der Inhaber im Raum steht. „Wähle selbst“, wie du dein Arbeitsumfeld gestalten willst – diese Aufforderung haben Simone und Torsten Klippel vor zehn Jahren sehr konsequent befolgt. Das mussten sie allerdings auch, denn anders als der Automat („Bei Versagen Geldrückgabe-Knopf drücken“) bietet das Retro-Konzept keine Reset-Taste für ihre Investition.
Autor: Tom Theilig
Mit 57 PS durch die Sahara für einen guten Zweck
Zwischenstopp am Atlantik: Die Augenoptiker aus Hessen fuhren mit einem 57-PS-starken alten VW Bully T3 über 5.000 Kilometer für die Organisation „kids and poors eyes".
Geld für einen guten Zweck sammeln und Spielzeug an eine Vorschule im marokkanischen Agadir übergeben, das waren – neben „heil ankommen“ – die Ziele, die Simone und Torsten Klippel mit ihrer Teilnahme am „Europe Africa Rodeo“ im vergangenen Jahr verfolgten. „Es handelt sich um eine Low-Budget- Rallye durch Marokko bis in die Westsahara, bei der die Teilnehmer individuelle Projekte unterstützen“, erklärt Klippel. Die Organisation „kids and poors eyes“ hilft sehbehinderten Kindern und Erwachsenen in den ärmsten Regionen der Welt . „Wir haben uns sehr gefreut, dass unsere Lieferanten und langjährigen Geschäftspartner wie Coblens oder Hamburg Eyewear uns dabei so großzügig unterstützt haben“, sagt Klippel, der am Ende den gesponserten Betrag von 7.850 Euro „aufrundete“ und 10.000 Euro an das Hilfsprojekt überwies.