Wenn Robin plötzlich den Wind hören kann

Pädakustikerin Claudia Brömel: Hörakustik mit Teddy und Bausteinen

Rund 500.000 Kinder in Deutschland sind schwerhörig. Um sie gut mit Hörsystemen versorgen zu können, braucht es Hörakustiker mit einer Spezialausbildung. Pädakustiker und Pädakustikerinnen wie Claudia Brömel setzen dabei vor allem auf viel Einfühlungsvermögen im Umgang mit den jungen Patienten und deren Eltern. Lesen Sie hier ihren Erfahrungsbericht.
Claudia Brömel mit Kleinkind

Claudia Brömel versorgt heute viel häufiger Säuglinge mit Hörgeräten als noch vor 15 Jahren.

© Claudia Brömel

Erstveröffentlichung in der DOZ 09/22

Etwa zwei von 1.000 Kindern kommen mit einer Hörminderung auf die Welt. Eines davon ist Robin (heute 23 Jahre alt), den ich als Pädakustikerin schon seit über 20 Jahren begleite. Als Dreijähriger kam er mit seinen Eltern das erste Mal zu mir und bekam tolle blaue Hörgeräte angepasst. „Mama, ich kann den Wind hören!“ Dieser begeisterte Ausruf von ihm nach der Hörgerätanpassung ist mir bis heute noch in Erinnerung geblieben und als Pädakustik-Slogan in großen Buchstaben auf unserem Schaufenster zu lesen. Anfangs war Robin ein sehr ruhiges Kind. Den Eltern fiel auf, dass er sich sprachlich deutlich langsamer entwickelte als sein jüngerer Bruder. Der erste Hörtest bestätigte dann einen mittelgradigen Hörverlust auf beiden Ohren. Mit den Hörsystemen machte Robin große Fortschritte. Er kommunizierte deutlich mehr mit seinen Mitmenschen und wurde ein aufgeschlossener, aufgeweckter Junge mit guten schulischen Leistungen. Bereits nach wenigen Wochen hatte er sich sehr gut an seine Hörsysteme gewöhnt und zeigte sie stolz jedem.

Inzwischen studiert Robin Lehramt. Ich habe ihn all die Jahre mit seiner Hörsystemversorgung begleitet und ihm vor einiger Zeit zum vierten Mal neue Geräte angepasst. Wir haben ein sehr freundschaftliches Verhältnis und es macht mich glücklich zu sehen, wie toll er sich entwickelt hat und wie begeistert er von neuen Technologien ist. Per Bluetooth Musik vom Smartphone auf die Hörsysteme zu streamen, das findet er großartig und den positiven Umweltaspekt mit wiederaufladbaren Akkugeräten sowieso. Dieses Beispiel zeigt anschaulich, dass eine Hörminderung im Kindesalter eine enorme Auswirkung auf die persönliche Entwicklung haben kann. Sie kann den Erwerb von Sprache sowie die soziale Kompetenz beeinträchtigen. Muss es aber nicht: Wir Pädakustikerinnen und Pädakustiker sind auf das Erkennen der Schädigung spezialisiert und versorgen Kinder mit entsprechenden Hörsystemen vom Säugling bis zum Erwachsenen.

Kinderhörtest mit leuchtendem Teddy

Da leuchtet der Teddy: Kinderhörtest mit der „Looky-Box“.

© Claudia Brömel

Früherkennung – das universelle Neugeborenen-Hörscreening

Während ich noch vor einigen Jahren, wie damals bei Robin, vor allem Kleinkinder ab zwei Jahren betreut habe, hat sich dies in den vergangenen 15 Jahren stark geändert. Heutzutage versorge ich häufiger Säuglinge mit Hörsystemen. Der Grund: Die Einführung des flächendeckenden universellen Neugeborenen- Hörscreenings (UNHS) im Jahr 2009. Es umfasst die Erkennung angeborener Hörstörungen bereits wenige Tage nach der Geburt in den Geburtskliniken. Bei der Überprüfung der otoakustischen Emissionen (OAE) werden im Screeningverfahren mittels eines tragbaren Geräts Echos erkannt, die ein gesundes Ohr als Reaktion auf leise Klicks produziert. Mit einem auffälligen Befund wird die weitere Diagnostik in pädaudiologischen Zentren durchgeführt. Dort wird die BERA (Brainstem Evoked Response Audiometry) eingesetzt, die eine frequenzspezifische Hörschwellenbestimmung ermöglicht, indem akustisch evozierte Hirnstammpotenziale gemessen werden. Bei beiden Messverfahren ist keine Mitarbeit der Säuglinge erforderlich, sodass sie in der Regel während des Schlafens durchgeführt werden können. Ziel ist es, alle Neugeborenen zu untersuchen und bei Auffälligkeiten frühzeitig mit Hörsystemen zu versorgen, damit die Entwicklung, vor allem die Sprachentwicklung, annähernd normal verlaufen kann. Mittlerweile passen wir direkt nach der Diagnose Hörsysteme an.

Das bedeutet aber auch, dass wir uns im alltäglichen Geschäft zeitlich und räumlich in den vergangenen zehn Jahren umstellen mussten. Wir haben einen Platz zum Windelwechseln und Füttern eingerichtet, Spiel- und Arbeitsmaterialien für Säuglinge angeschafft und den zeitlichen Mehraufwand dafür eingeplant. Hörschäden bei Neugeborenen sind oft Ursache genetischer Defekte. Manche Gendefekte führen bereits nach der Geburt zu offenkundigen Hörschäden. Andere verursachen nach und nach einen Hörverlust mit Progredienz. Weitere Ursachen für Schwerhörigkeiten bei Kindern und Säuglingen sind außerdem Infektionen der Ohren und eitrige Mittelohrentzündung (Otitis Media). Bei älteren Kindern zählen Kopfverletzungen mit Schädelbruch, chronische Mittelohrentzündungen, Lärmeinwirkung, Einnahme von Medikamenten, Virusinfektionen oder Trommelfellperforationen durch Fremdkörpereinwirkung zu den häufigsten Ursachen. Die Hörbahnreifung eines Kindes ist nach 18 Monaten abgeschlossen. Diese Phase ist besonders wichtig für den Spracherwerb. Führt man die Hörsystemversorgung frühzeitig durch, hat das Kind die besten Voraussetzungen, Sprache ohne Defizite zu erlernen. Ein frühes Erkennen einer Hörschädigung verbessert die Chance, das vorhandene Restgehör während der „kritischen Periode“ in den ersten acht Lebensmonaten der Sprachanbahnung zu stimulieren. Die Herausforderung liegt also darin, in dieser Zeit die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und richtig darauf zu reagieren. Warum nimmt beispielsweise ein Säugling nach einer guten Akzeptanzphase die Geräte immer häufiger aus dem Ohr? Weil dies in der oralen Phase völlig normal ist. Säuglinge erkunden in dieser Zeit ihr näheres Umfeld und entdecken das Hörgerät als Spielzeug neu. In den kälteren Jahreszeiten leiden Kleinkinder öfter unter erkältungsbedingten Mittelohrproblemen. Dann ist es besonders wichtig, darauf zu reagieren und gegebenenfalls die Hörsysteme an den erhöhten Verstärkungsbedarf anzupassen.

Hörakustik Betrieb Claudia Brömel

Robins Aussage „Mama, ich kann den Wind hören“ ziert das Schaufenster von Claudia Brömels Hörakustikfachgeschäft in Lübeck.

© Claudia Brömel

Versorgung der Kinder in zwei Schritten

Und wie läuft die Versorgung des Kindes in der Praxis ab? Im ersten Schritt bespricht der Pädakustiker den Ablauf der Versorgung. Die Eltern aufzuklären und zu beraten sowie ihnen Ängste und Sorgen zu nehmen, steht dabei im Vordergrund. Oftmals sind sie nach der Diagnose „Hörschädigung“ verunsichert und haben Sorgen wie „Wird mein Kind jemals sprechen lernen? Kann es auf eine ,normale‘ Schule gehen und einen guten Schulabschluss erreichen?“. Zudem befürchten sie, dass ihr Kind die Hörsysteme nicht tolerieren, sich schämen und die Geräte ablehnen könnte. Diese Angst ist meist unbegründet, denn Kinder nehmen die Hilfe und Unterstützung durch die Hörsysteme im Alltag erfahrungsgemäß sehr gut an. Bei der Versorgung ist zudem viel Einfühlungsvermögen auch gegenüber den Eltern und Kindern gefragt. Von letzteren werden Ohrabformungen genommen, um individuelle Otoplastiken zur Ankopplung der Hörsysteme am Ohr zu fertigen. Bei Säuglingen und Kleinkindern ist dies regelmäßig erforderlich, da die Ohren sehr schnell wachsen.

Eine gute Passform sollte immer gewährleistet sein, um die notwendige Verstärkung rückkopplungsfrei ans Ohr zu bringen. Dafür empfehle ich ein Abformmaterial, das besonders schnell aushärtet. Wir verwenden dafür einen speziellen Injektor für kleine Säuglingsohren. Ohrpassstücke für Kinder bestehen aus einem weichen Silikonmaterial, um Verletzungen und Druckstellen vorzubeugen. Die persönliche Akzeptanz wird nicht zuletzt durch eine farbenfrohe und kindgerechte Auswahl gestärkt. Hörsysteme für Kinder unterscheiden sich in der Ausstattung von Erwachsenenmodellen. Kindersichere Batteriefächer, Mini-Hörwinkel für guten Sitz am kleinen Kinderohr sowie eine große Farbpalette sind besondere Merkmale. Auch robuste und stabile Gehäuse mit staub- und spritzwassergeschützter Oberfläche sind zu empfehlen, um Kindern in ihrem turbulenten Alltag beim Spielen und Toben den bestmöglichen Schutz vor Schäden an der Technik zu gewährleisten. Im zweiten Schritt erfolgt die Hörsystemanpassung. Auf Basis der objektiven Messverfahren sowie der individuellen Ohrgegebenheiten werden die Hörsysteme am Computer vorprogrammiert. Die Entwicklung und das Wachstum der Kinder kann auch den Hörverlust beeinflussen. Das Hörvermögen sollte daher in regelmäßigen Abständen überprüft und die Hörsysteme entsprechend angepasst werden. Die individuellen Bedingungen am Ohr und somit die Übertragung der akustischen Verstärkung verändern sich ständig und sollten regelmäßig optimiert werden.

Zusätzlich zur Hörsystemversorgung ist auch die Anpassung digitaler Übertragungsanlagen bei stärkeren Hörverlusten ein großes Tätigkeitsfeld der Pädakustik. Die sprechende Person trägt ein Mikrofon (in der Hand, um den Hals, auf dem Tisch), das die Stimme per Digitalfunk an entsprechende Empfänger in den Hörsystemen sendet. So werden die akustischen Distanzen zu sprechenden Personen im belebten Alltag der Kinder überbrückt. Die Übertragungsanlagen finden am häufigsten Anwendung in der Schule, in Kindergarten oder Kita, beim Sport, beim Radfahren. Wir beraten Lehrkräfte diesbezüglich vor Ort und führen die Einweisung in die Handhabung durch. Außerdem ist es wichtig die Eltern für die Bedürfnisse ihres Kindes zu sensibilisieren und von der großen Bedeutung von gutem Hören für die Entwicklung zu überzeugen. Ein Beispiel: Der Vater der fünfjährigen Leonie bemängelte, dass sie trotz Hörgeräten manchmal gar nicht reagiert. Bei der Überprüfung stellte ich fest, dass die Ohrpassstücke mit Cerumen (Ohrenschmalz) verstopft waren. Somit konnte der verstärkte Schall nicht ans Ohr gelangen. Eine kleine Ursache mit großer Auswirkung. Ich habe den Vater daraufhin (erneut) auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Hörsysteme gut zu reinigen und zu pflegen.

Über Wünsche und Sorgen sprechen

Eltern müssen ständig in den weiteren Versorgungsprozess eingebunden werden, um die Hörsystemversorgung und das Hörverständnis bestmöglich beobachten und bewerten zu können. Ich empfehle den Eltern, regelmäßig mit ihren Kindern über die Wünsche und Sorgen zu sprechen. Oft sind es Kleinigkeiten, die sehr schnell behoben oder optimiert werden können, wie zum Beispiel eine neue Farbe oder auch die Möglichkeit, das Smartphone per Bluetooth mit den Hörsystemen zu verbinden. Die Anpassung bei Kindern ist nie abgeschlossen. In dreimonatigen Abständen prüfen und optimieren wir die Versorgung. Die Erfolgskontrollmessung mit Hörsystemen ist dank VRA (Visual Reinforcement Audiometry) auch schon bei Säuglingen möglich.

Diese subjektive Messmethode ermöglicht eine hörschwellennahe Bestimmung des Hörvermögens. Da eine bewusste Reaktion auf einen Schallreiz und somit eine Hörschwellenprüfung wie bei einem Erwachsenen nicht möglich ist, geht es um Konditionierung, sprich: um eine visuelle Belohnung für die Reaktion auf einen akustischen Reiz. Wir verwenden dazu die „Looky-Box“: Ein Teddy, der per Fernbedienung beleuchtet und bewegt wird. Der Säugling bekommt überschwellig einen akustischen Reiz aus einem Lautsprecher angeboten. Gleichzeitig erfolgt die visuelle Belohnung – der Teddy leuchtet und bewegt sich. Mehrfache Wiederholungen bewirken, dass der Säugling im zweiten Schritt, wenn er einen Reiz wahrnimmt, in Erwartung auf die visuelle Belohnung selbstständig zur Box schaut.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Konditionierung abgeschlossen und der akustische Reiz kann schrittweise in der Lautstärke reduziert werden. Voraussetzung dafür ist, dass der Säugling den Kopf selbstständig halten und drehen kann. Dies ist meist ab dem vierten Lebensmonat der Fall. Dann kann eine hörschwellennahe Reaktionsschwelle gemessen werden, die dann eine Aussage über eine erfolgreiche Hörsystemanpassung zulässt. Es wird dabei ermittelt, bis zu welchem Pegel im jeweiligen Frequenzbereich der Säugling noch reagiert. Das klingt sehr einfach und spielerisch, ist aber sehr aufwendig und erfordert viel Erfahrung, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erzielen.

Mädchen mit pinken Hörgerät
© Claudia Brömel

Spielaudiometrie: Die Kinder haben Spaß, ohne sich getestet zu fühlen

Ab dem dritten Lebensjahr führt man eine Spielaudiometrie durch. Da bereits Interaktion mit dem Kind möglich ist, ermitteln wir auf spielerische Art und Weise die Hörschwelle. Dazu wird zum Beispiel ein Steckbrett mit Bausteinen verwendet. Die „Zaubersteine“ können piepen und wenn das Signal erscheint, darf ein Stein aufgesteckt werden. Meist haben die Kinder Spaß abei, ohne sich in einer Testsituation zu fühlen. Ich empfehle, die Hörmessungen bei Kindern wenn möglich mit zwei Personen durchzuführen. Während ich mich um die Messtechnik und die Programmierung der Hörsysteme kümmere, übernimmt eine Mitarbeiterin die Arbeit mit dem Kind.

 

 Weiterbildung zur Pädakustikerin

  • Vor über zwanzig Jahren hat sich Claudia Brömel zur Pädakustikerin weitergebildet. Der aktuelle Weiterbildungskurs erstreckt sich über drei Monate mit Online-Webinaren sowie einer Woche Praxis vor Ort und vermittelt theoretische Kenntnisse und praktische Fertigkeiten.
  • Im Praxisteil werden mit moderner Messtechnik altersgerechte Messmethoden erlernt und mit Kinderprobanden durchgeführt.
  • Der theoretische Teil umfasst medizinische Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der Hör- und Sprachentwicklung von Kindern. Es werden Besonderheiten erläutert, die bei der Hörprüfung und Hörsystemanpassung bei Kindern/Säuglingen zu berücksichtigen sind.
  • Voraussetzung für diese Spezialisierung sind drei Jahre Berufserfahrung als Hörakustikerin oder Hörakustiker oder ein Meisterbrief im Bereich Hörakustik.
  • Kosten: 4.250 Euro; weitere Infos: seminare.afh-luebeck.de

 

Die Aufmerksamkeitsspanne ist altersentsprechend deutlich geringer als bei Erwachsenen. So kann man mit einem Säugling maximal zehn Minuten effektiv arbeiten, um noch reproduzierbare Ergebnisse zu erhalten. Im höheren Alter werden die Spielhandlungen komplexer und das Spielmaterial altersentsprechend angepasst. Die Aufmerksamkeitsspanne erhöht sich dann deutlich, je spannender das Spiel ist. Stempeln oder Memory wird auch von älteren Kindern sehr gut angenommen. Um die Verbesserung der Sprachverständlichkeit mit den Hörsystemen nachzuweisen, werden Kindersprachtests durchgeführt. Kindgerechte Worte (etwa Auto , Ball , Mama ...) werden anfangs geübt und später vom Kind mit und ohne Hörgerät nachgesprochen. Meine Maxime dabei ist immer: Auch wenn noch nicht alle erforderlichen Messergebnisse erreicht sind, sollte das Kind nicht überfordert werden, damit es für Folgetermine motiviert bleibt. Mir ist besonders wichtig, dass Kinder und ihre Eltern immer mit einem positiven Gefühl das Geschäft verlassen und sich auf ihren nächsten Termin freuen können. Kinder optimal zu versorgen ist ein ständig laufender Prozess, der von einer guten Vertrauensbasis und einer positiven Zusammenarbeit lebt.

Claudia Brömel
© Claudia Brömel

Claudia Brömel ist seit über 20 Jahren Hörakustik-Meisterin und Pädakustikerin. Als Gastdozentin am Campus Hörakustik an der Akademie für Hörakustik in Lübeck gibt sie regelmäßig ihre Erfahrung und ihr Wissen zum Thema Pädakustik weiter.