ZVA tagt im Zeichen des HHVG
Von französischen Verhältnissen und dem großen Einfluss der Zusatzkassen sind die deutschen Augenoptikbetriebe zum Glück (noch) ein Stück weit entfernt, doch dem Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz blicken sie direkt ins Gesicht. Warum die Delegierten des ZVA fürchten müssen, wegen Inkontinenzhilfen bald keine Brillen und Kontaktlinsen mehr verordnen zu dürfen, wurde ihnen bei der ZVA-Mitgliederversammlung am 11. und 12. März in Dortmund bewusst.
Langeweile musste man fürchten, als Berthold Schröder zu Beginn der Mitgliederversammlung des Zentralverbandes der Augenoptiker und Optometristen (ZVA) von der Digitalisierung als Königsdisziplin des Handwerks sprach und in diesem Zusammenhang den Verbraucher, die Beratung des Augenoptikers und nicht zuletzt den zu akquirierenden Berufsnachwuchs erwähnte. Nicht, dass das keine interessanten Themen wären, die allesamt die Augenoptik auch in den kommenden Jahren noch beschäftigen werden. Aber sie erneut „eine Tagung lang“ zu diskutieren? Der Präsident der Handwerkskammer Dortmund beendete glücklicherweise seine Grußrede im Mercure-Hotel zeitig genug, sodass sich die Befürchtungen schnell wieder verflüchtigten und sich die Langweile noch nicht eingestellt hatte.
Er hatte ehrlich gesagt sogar den Nagel auf den Kopf getroffen: schließlich verabschiedeten die Delegierten später neue Bewertungsrichtlinien für eine bundesweit einheitliche Gesellenprüfung. Um die fachliche Kompetenz der stationären Augenoptiker weiter zu stärken, ist zudem der Aufbau einer Meisterprüfungs-Datenbank in Arbeit. Schröder war also nicht der Einzige, der Mitte März am Versammlungswochenende die Digitalisierung mit ihren Folgen bemühte – aber er wusste, dass für dieses Mal die Delegierten andere, brennendere Themen im Sinn hatten.
Denn der ZVA hatte nicht nur bewegende Themen auf der Tagesordnung, sondern durch das Schwerpunktthema „Gleitsichtgläser“ samt gut aufgelegter Referenten auch praxisnahe Hintergrundinformationen zu bieten, die sehr gut bei den Delegierten und Gästen ankamen. Dass auch die Wahlen des Präsidiums anstanden, gab vor allem angesichts fehlender Gegenkandidaten für die amtierenden Personen der Veranstaltungen dagegen keine besonders brisante Note. So muss man schon suchen, um Uneinigkeit oder Diskussionsstoff zwischen den Landesverbänden unter dem Dach des ZVA zu erahnen, zumal sogar die bundesweite Werbekampagne ohne weitere Vorkommnisse oder Beanstandungen fortgesetzt wird. Allenfalls in die Äußerung von Thomas Heimbach könnte etwas interpretiert werden: Der Vorsitzende des mitveranstaltenden Augenoptiker- und Optometristenverbandes Nordrhein-Westfalen freute sich, dass am Vorabend der Versammlung das deutsch-bayerische Verhältnis gepflegt worden sei.
HHVG sollte die komplette Branche beschäftigen
Eine Stärke des alten wie neu gewählten ZVA-Präsidenten Thomas Truckenbrod ist gewiss die Fähigkeit, verschiedene Interessen zu einen. Und so ging er in seinem Bericht zur aktuellen Situation schnell auf das Thema ein, das nicht nur den ZVA, nicht nur Bayern oder den Rest Deutschlands, sondern die komplette Branche beschäftigen sollte und ziemlich wenig mit der Digitalisierung zu tun hat: das am 16. Februar vom Bundestag verabschiedete Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG).
Die Entscheidung des Bundestages und deren Folgen (siehe DOZ 03|2017) stehen dabei im Mittelpunkt der Diskussionen, doch nicht minder interessant sind das Zustandekommen der Neuregelung und die unmittelbaren Anstrengungen, die nun auf die verschiedenen Beteiligten zukommen. Offenbar spielte sich im Rahmen des neuen Gesetzes und den damit verbundenen erweiterten Leistungen der Gesetzlichen Krankenkassen in Bezug auf Sehhilfen einiges „hinter verschlossenen Türen“ ab. Zumindest waren sowohl der ZVA als auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (SpiBu) verhältnismäßig überrascht, als sie relativ kurz vor der anstehenden Entscheidung über das Ausweiten des Leistungskataloges von den geplanten Änderungen erfuhren. Die eigentlichen Änderungen scheinen indes nicht das allergrößte Problem zu werden. Vielmehr laden manche Formulierungen in der Neuregelung zu unterschiedlichen Interpretationen ein, die je nach Lesart für die deutschen Augenoptikbetriebe erhebliche Folgen haben könnten.
Dürfen Augenoptiker weiter „verordnen“?
In erster Linie muss sich die Branche fürchten, zukünftig nicht mehr eigenverantwortlich Brillen und Kontaktlinsen verordnen zu dürfen – obwohl sich die Augenoptik dieses Recht vor einigen Jahrzehnten vor Gericht gegen die Augenärzte erstritten hat. Nun aber öffnet eine bestenfalls unachtsame Formulierung eine durchaus erheblich große Hintertür, dass sich die Augenärzte dieses Recht wieder exklusiv sichern. Im Klartext: Im finalen Gesetzestext des HHVG ist neuerdings von „verordnen“ die Rede; diese neun Buchstaben spielen in Bezug auf die Refraktionen der Augenoptiker eine beachtliche Rolle: Verordnen, das darf schließlich nur ein Arzt. Damit nicht genug, die Gesetzesänderung nimmt nun ihren Weg in den Gemeinsamen Bundesausschuss, der daraus die Richtlinie für die Beteiligten formuliert; dumm, dass in diesem Ausschuss keine Augenoptiker sitzen, aber ziemlich viele Ärzte!
Der ZVA will sich nun mit den involvierten Verbänden abstimmen und zeigt sich zuversichtlich, dass Augenoptiker weiterhin ihr Refraktionsrecht genießen und eigenverantwortlich Brillen und Kontaktlinsen verordnen dürfen – was bleibt ihm derzeit auch übrig? Fehlsichtigkeit sei keine Erkrankung, meint ZVA-Geschäftsführer Dr. Jan Wetzel, „wir gehen davon aus, dass die bisherige Regelung gemäß § 33 Absatz 5a SGB V auch künftig Anwendung findet und eine ärztliche Verordnung somit ausschließlich dann erforderlich ist, wenn eine erstmalige oder erneute ärztliche Diagnose oder Therapieentscheidung medizinisch geboten ist.“ Dr. Wetzel aber kann sich nicht sicher sein. Das zeigt die Ankündigung des ZVA, im Falle einer erneuten Überraschung einen juristischen Ausklang dieser Geschichte zu bemühen.
SpiBu kalt erwischt
Es tröstet diesbezüglich wenig, dass auch der SpiBu von dieser Vorgehensweise „kalt erwischt“ wurde, wie Carla Meyerhoff-Grienberger, Referatsleiterin Hilfsmittel im Spitzenverband, in ihrem Vortrag erklärte. Weder wüsste sie derzeit, wie genau das HHVG umzusetzen sei, noch zeigte sie sich auffällig erfreut darüber, dass keinerlei Übergangsvorschriften in das Gesetz aufgenommen worden sind. Bis zum Stichtag 31. Dezember 2018 stehe nun eine Revision des sehr umfangreichen Hilfsmittelverzeichnisses an, eine „Herkules-Aufgabe, die kaum zu schaffen ist“, meinte Meyerhoff-Grienberger. Sie zeigte Verständnis für den Unmut, der von den Delegierten zum ZVA übermittelt wurde. Dennoch machte sie keinen Hehl daraus, dass eine Gesetzliche Krankenkasse zu allererst Rücksicht auf ihre eigenen Mitglieder nehmen müsse und der SpiBu zudem nur begrenzten Einfluss habe. Das Wesentliche werde nun im Gemeinsamen Bundesausschuss ausgearbeitet: „Da haben die Ärztevertreter immerhin 50 Prozent der Stimmen“, sagte sie mehr warnend als erklärend.
Den langen Weg eines Gesetzes bis zum Inkrafttreten veranschaulichte Torben Vahle bereits vor dem augenöffnenden Vortrag der Referatsleiterin. Der Referent für die Gesundheitshandwerke beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) betonte, dass die finale Ausgestaltung des HHVG erst im nichtöffentlichen Teil Einzug in das Gesetz gefunden habe, aber dennoch dank der guten Arbeit der Verbände Einfluss darauf genommen werden konnte. Der ZDH habe erst sehr spät davon erfahren, dass Sehhilfen von der Gesetzesänderung betroffen seien, erklärte Vahle. Er geht davon aus, dass die Neuregelung durch die Unterschrift des Bundespräsidenten am 1. April in Kraft tritt.
Schlechte Beratung bei Inkontinenzhilfen
Warum die Verbände und auch letztlich die Augenoptik von der Entwicklung offenbar zunächst nichts mitbekommen haben, ist in der Apotheken-Umschau vom 1. März nachzulesen: Unter dem Titel „Inkontinenz – endlich Anspruch auf bessere Hilfsmittel“ steht genau das beschrieben, was auch Carla Meyerhoff- Grienberger bei der ZVA-Tagung in anderen Worten erklärte und warum die Gesetzlichen Krankenkassen fortan mehr für Sehhilfen bezahlen werden: „Der Spitzenverband hatte 2016 die Qualitätsansprüche an aufsaugende Inkontinenz-hilfen deutlich erhöht. Vor allem müssen sie Flüssigkeit schneller aufnehmen und dürfen nicht so stark rücknässen“, schreibt die Apotheken-Umschau. Geruchsbindung und Atmungsaktivität seien auch festgeschrieben worden, wird Florian Lanz vom SpiBu zitiert. Die Rednerin beim ZVA ergänzte, dass es offensichtlich in der Verbraucherberatung bei diesem Thema Defizite gegeben habe, was die Änderungen des HHVG angestoßen und zur Neuregelung bei Sehhilfen inklusive einer Dokumentationspflicht an die Krankenkassen für den Augenoptiker geführt habe. Dass dabei auch die Anträge der BAG Selbsthilfe (Vereinigung der Selbsthilfeverbände behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen in Deutschland) und des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes eine Rolle gespielt haben, stand bereits in der Märzausgabe der DOZ und ist unter www.doz-verlag.de unter anderem mit dem Suchwort „HHVG“ noch einmal nachzulesen.
Eingespielte ehrenamtliche Mannschaft
Der ZVA wird nun versuchen müssen, mehr Einfluss auf die weitere Ausarbeitung zu bekommen als bislang, das gute Verhältnis zum SpiBu könnte ein erster Schritt sein. Für die kommenden arbeitsreichen Wochen und Monate dürfte es dabei ein Vorteil sein, dass eine eingespielte ehrenamtliche Mannschaft aufs Feld läuft: Thomas Truckenbrod wurde einstimmig zum Präsidenten wiedergewählt und freut sich auf seine mittlerweile vierte Amtszeit. Christian Müller und Dieter Großewinkelmann erhielten als Lohn für ihr bisheriges Wirken als Vizepräsidenten ebenfalls überragende Abstimmungsergebnisse, bei denen allenfalls zwei ungültige Stimmen verwunderten. Unabhängig vom Ergebnis überrascht die Wiederwahl des gesamten ZVA-Präsidiums wenig, es hatte ja noch nicht einmal einen Gegenkandidaten für einen der Posten gegeben. Das deutet einerseits darauf hin, dass der ZVA an diesen Stellen bestens besetzt ist und, dass das ins Präsidium gesteckte Vertrauen offensichtlich gerechtfertigt ist. Andererseits könnte man auf den Gedanken kommen, dass sich der Verband auch in den eigenen Reihen dringend um Nachwuchs kümmern sollte. Die kommende dreijährige Amtszeit des Präsidiums bietet vielleicht die Gelegenheit, geeignete Nachfolger aufzubauen.
Uli Mößlang wird dafür nicht mehr zur Verfügung stehen: Der 66-jährige Münchener hat sich über 30 Jahre ehrenamtlich unter anderem für ein einheitliches Ausbildungsniveau und qualifizierten Berufsnachwuchs eingesetzt und erhielt zu seinem Abschied als Delegierter das Silberne Ehrenzeichen des ZVA. Es sollte als weiterer Beweis der erwähnten Annäherung zwischen Deutschland und Bayern gewertet werden, dass Mößlang seine Ehrung mit den Worten beendetet: „Es hat immer Spaß gemacht und es gab keine Sitzung, die nicht gut gelaufen ist.“ Nicht immer rund, aber am Ende zufriedenstellend gelaufen ist das Musterverfahren des ZVA gegen den Onlinehändler 4Care GmbH, der mittlerweile zum Essilor-Konzern gehört. Der Onlinehandel darf nun nicht mehr mit „Optiker-Qualität“ werben und muss vor dem Tragen seiner Gleitsichtbrillen im Straßenverkehr warnen. Truckenbrod machte seine Kollegen darauf aufmerksam, dass auch sie die für die Fertigung einer Gleitsichtbrille nötigen Daten erheben müssen, denn im Gegensatz zum Onlinehandel ist das im direkten Kundenkontakt möglich. „Tragen Sie das in Ihre Innungsversammlungen“, mahnte der Präsident nicht zum ersten Mal. Er weiß, dass die Onlinehändler in Zukunft genau darauf achten werden, was beim stationären Augenoptiker gemacht wird und was nicht.
Fachvortragsprogramm perfekt ausgewählt
In diesem Sinne war das Programm des zweiten Tagungstages mit den Fachvorträgen zu Gleitsichtbrillen perfekt ausgewählt. Zunächst erörterte Prof. Dr. Peter Baumbach von der Hochschule Aalen die vier grundlegenden Arten von Gleitsichtglasdesigns und illustrierte, dass ein individualisiertes Glas nicht immer zwangsläufig das Beste sein muss. Dr. Klaus Wehmeyer, Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Augenoptik AG, widmete sich in seinem Vortrag auf unterhaltsame Weise den diversen Reklamationsgründen nach dem Gleitsichtbrillenkauf. „Ein Problem, dass weder Sie hier im Saal noch ich als Aufsichtsratsvorsitzender wirklich kenne, wir müssen also auf Fremdmaterialzurückgreifen“, witzelte er zu Beginn, um anschließend erstaunliche Fallbeispiele vorzustellen. Sie zeigten auf, wie wichtig die Ermittlung der korrekten Mess- und Zentrierdaten für das Tragen einer Gleitsichtbrille sind. Dr. Wehmeyer zeigte die Negativbeispiele, alle geliefert von stationären Augenoptikern und nicht vom Onlinehandel!
Zuvor hatte bereits Denis-André Zaugg den Delegierten in seinem gleichnamigen Vortrag „die Katastrophe vor Augen“ geführt. Der Geschäftsführer der Optiswiss AG berichtete vom augenoptischen Markt in Frankreich, wo Kunden beim Kauf einer Brille im Durchschnitt nur 24 Prozent selbst zahlen müssen. Den Großteil des Kaufpreises übernehmen die Zusatzkassen, wodurch sie großen Einfluss auf Augenoptiker und Lieferanten gewinnen. Die lebhafte Schilderung der französischen Verhältnisse ließ den Augenoptikern im Dortmunder Sitzungssaal ein weiteres Mal nach der Diskussion um das HHVG oft genug die Gesichtszüge einfrieren.
In seinem Schlusswort wiederholte Truckenbrod ein Zitat des Schweizers Zaugg. „Ihr seid ein Verband, bleibt stark und bleibt einig.“ Er formulierte dabei eine leise Hoffnung, dass die Landesverbände sich im Dunstkreis der bevorstehenden Änderungen im Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen auf zusätzliche neue Mitglieder freuen könnten. „Vielleicht ist das eine Chance für Sie und uns, ein bisschen Werbung für uns und unsere Arbeit zu machen.“ Die Mitgliedsbeiträge scheinen tatsächlich gut investiert angesichts der Entwicklungen in der Branche. Die Arbeit des ZVA und die seiner Landesverbände dürften in den kommenden Monaten kaum günstiger werden.