Eine Zeitreise: Fassungen aus Morez
Ein Blick in die Vergangenheit: Eine Polierwerkstatt in Morez Anfang des 20. Jahrhunderts.
Erstveröffentlichung in der DOZ 08|2024.
Unsere Reise beginnt am Genfer Flughafen und führt uns etwa eine Autostunde entlang des wunderschönen Genfer Sees, bis wir schließlich in das malerische Jura-Gebirge in Frankreich gelangen. Dichte Wälder, Berge und Täler säumen die Straßen. Das Glockengeläut von Kuhherden ist schon von weitem zu hören. Hier im Hochjura, auf 700 Metern Höhe, liegt das Städtchen Morez. Idyllisch und verschlafen wirkt die französische Gemeinde, die entlang des Flusslaufs der Bienne verläuft und zu beiden Seiten von steil ansteigenden Hängen und vorspringenden Felsen flankiert wird. Ein Eisenbahnviadukt aus den frühen 1900er Jahren säumt den Ort. Hollywood-like prangt der Name Morez auf einem Felsen oberhalb der Stadt.
Um 1840 wurde in Morez der Kneifer erfunden. Er wurde nicht zuletzt wegen seiner Ästhetik und Unauffälligkeit ein weltweiter Erfolg.
Auch wenn die Größe von Morez darüber hinwegtäuschen mag, handelt es sich um einen historisch bedeutsamen Ort. Das raue Klima isolierte die Bewohner der früheren Jahrhunderte vor allem im Winter. Doch ihr Einfallsreichtum und ihre Schaffenskraft ließen den Ort erblühen. So entwickelte sich Morez im 16. und 17. Jahrhundert zu einem Industriestandort. Es begann mit der Metallnagelproduktion. Ab 1660 etablierte sich die Uhrenindustrie vor Ort. Diese führte zur Herstellung monumentaler Uhren für Rathäuser, Bahnhöfe und Kirchen, was heute eindrucksvoll in der Eingangshalle des Brillenmuseums in Morez zu bestaunen ist. Gerbereien, Leinenwebereien und Drahtziehereien folgten und machten Morez zu einem Zentrum traditioneller Gewerbe. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam die Fertigung von Emaille in die Region, und um 1800 nahm die Brillenindustrie dort ihren Anfang. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs Morez von 1.000 auf über 5.500 Einwohner an. Die Brillenfassungen eroberten den Markt und machten Morez zur „Hauptstadt der französischen Brille“. Die kleine Stadt zeigt eindrucksvoll, wie sich eine Gemeinschaft durch Innovationsgeist und industrielle Entwicklung von einem isolierten Ort zu einem Zentrum des Handwerks und der Industrie wandeln kann.
Bei unserem Besuch im Musée de la Lunette konnten wir selbst die ersten in Morez hergestellten Sehhilfen in Augenschein nehmen. Die erste wurde im Jahr 1776 produziert.
Die erste französische Metallfassung
Von dieser Geschichte zeugt das Musée de la Lunette – das Brillenmuseum. Gegenüber dem 1890 erbauten alten Rathaus, das heute ein Hotel beherbergt, liegt das moderne, überwiegend aus Glas bestehende Gebäude direkt an der Place Jean Jaurès im Herzen von Morez. Es zeigt in einer einzigartigen Sammlung sowie in wechselnden Ausstellungen die Geschichte der lokalen Brillenindustrie. Bei unserem Besuch erfahren wir: Hier wird vor allem die Geschichte der Metallbrillen nachgezeichnet, die 1776 dank des Geschicks eines Nagelschmiedemeisters begann. In diesem Jahr stellte Pierre-Hyacinthe Caseaux die erste französische Metallfassung her. Der Überlieferung nach besaß Caseaux bereits eine aus England importierte Brille (dort wurden ab den 1730er Jahren die ersten Bügel entwickelt). Nachdem sie ihm zerbrochen war, fertigte er dank seiner Metallkenntnisse eine neue an. Im ersten Jahr stellte er zehn Exemplare her. Sein Patenkind und Lehrling Pierre-Hyacinthe Lamy entwickelte das Brillengeschäft in Morez weiter und eröffnete die erste Fabrik des Ortes.
Die Abbildung auf der historischen Postkarte zeigt Morez im verschneiten Winter. In dieser Gegend liegt die Wiege der französischen Brillenindustrie.
Sehhilfe damals Zeichen einer Behinderung
Obwohl die lokale Industrie florierte, galt es eine besondere Hürde zu überwinden: Die Eitelkeit der Menschen. Das Tragen einer Sehhilfe wurde damals als Zeichen einer Behinderung angesehen. Doch um 1840 kam die Wende – in Morez wurde die Nasenklammer, bekannt als Kneifer, erfunden. Jede Werkstatt vor Ort kreierte ihre eigenen Versionen dieses innovativen Accessoires. Der Kneifer war eine kleine Revolution. Er wurde je nach Sehstärke höher oder tiefer auf den Nasenrücken geschoben. Obwohl er das Atmen behinderte und eine nasale Stimme verursachte, war er aufgrund seiner Ästhetik ein großer Erfolg. Anders als Sehhilfen mit Bügeln war der Kneifer ein dezentes Accessoire, das mit einer Schnur im Knopfloch befestigt und in der Tasche verstaut werden konnte. Er ermöglichte es den Trägern, ihre Sehhilfe unauffällig zu nutzen und dennoch stilvoll zu wirken. Dank zahlreicher Erfindungen und Patente wurde der Kneifer bis in die 1920er Jahre hinein weltweit exportiert und blieb über Jahrzehnte hinweg in Mode. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Morez die sogenannten „Fer-à-cheval“(Hufeisen)-Fassungen hergestellt, die wir im Brillenmuseum bestaunen können. Die Fassungen verfügten über an den Seiten herunterklappbare Sonnengläser, die an die Scheuklappen von Pferden erinnern. Weitere Brillenfassungen in Form von „Haarbrillen“ waren so dünn, dass sie nicht mehr als 15 Gramm wogen. Ab 1900 wurden Brillenfassungen mit besaiteten Hakenbügeln hergestellt, die einen traditionellen Hakenbügel, der sich um das Ohr legt, mit dünnen Fäden oder Drähten kombinierte. Dies sollte den Tragekomfort der Brille verbessern und einen sichereren Sitz gewährleisten. Die von Clément Gouverneur erfundene Bespannungsmaschine ermöglichte es, vier Bronze-/Kupferdrähte um einen Stahldraht zu flechten. Auf diese Weise konnten Bügel hergestellt werden, die sowohl flexibel als auch unzerbrechlich waren. So konnten sie auch von Kindern, Sportlern und Soldaten getragen werden.
Anfang des 20. Jahrhunderts entstehen in den Werkstätten von Morez Sehhilfen. Die Damen sortierten Brillengläser für die Endfertigung.
Morez zeigte, wie ästhetische und zugleich praktische Lösungen geschaffen werden
Das Musée de la Lunette beherbergt eine weltweit einzigartige Kollektion: die Sammlung EssilorLuxottica - Pierre Marly. Die ausgestellten Exponate wurden von Pierre Marly zusammengestellt. Er war nicht nur Optiker und Sammler, sondern entwarf auch die Brillen etlicher französischer und internationaler Stars, darunter Elton John, Audrey Hepburn, Brigitte Bardot und Sophia Loren. Marlys Leidenschaft für Brillen und optische Instrumente dokumentiert die Geschichte und Entwicklung der Brillenindustrie auf faszinierende Weise. Die Sammlung umfasst über 2.500 seltene und „prestigeträchtige“ Stücke, wie das Museum sie beschreibt. Anfang der 2000er Jahre erwarb der französische Konzern Essilor einen Teil dieser kostbaren Sammlung, die Besucher aus aller Welt begeistert und einen einzigartigen Einblick in die Entwicklung und Vielfalt der Brillenmode bietet.
Wir gehörten zu den ersten Besuchern der aktuellen Wechselausstellung „Brillen für den Sport“ und durften sie exklusiv bereits vor der Eröffnung Mitte Juni (zu sehen bis 16. März 2025) bestaunen. Die Ausstellung wurde im Zuge der Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 in Paris entwickelt.
Morez heute, das ist eine faszinierende Mischung aus Geschichte und Gegenwart der Brillenindustrie. Das Museum dokumentiert die reiche Vergangenheit, während international bekannte Fassungshersteller, deren historische Wurzeln im französischen Jura liegen, die Gegenwart und Zukunft der Branche prägen. Dank dieser starken Tradition und Innovationskraft bleibt die Optik ein zentraler Industriezweig der Region, der etwa 80 Prozent der französischen Brillenproduktion abdeckt. Wir hatten die großartige Möglichkeit, diesen historisch wichtigen Ort der Augenoptikbranche persönlich zu besuchen.
Falls Sie nicht die Gelegenheit haben, alsbald einmal nach Morez zu kommen, hier ein Tipp: Im Rahmen der Branchenmesse Silmo (20. – 23. September) in Paris sind das Brillenmuseen aus Morez (Metallbrillen) und das Kamm- und Kunststoffmuseum Oyonnax (Kunststoffbrillen) mit Ausstellungen vertreten. Diese bieten einen tiefen Einblick in die Innovationen der Branche. Schauen Sie vorbei!