HHVG: Bärendienst oder gar Verschwörung?

Zwei Bären, die miteinander kämpfen.
Welchen Einfluss hat das geänderte HHVG auf die Branche?
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„Gefährlich ist ein dummer Freund, besser schon ein weiser Feind.“ Nein, keine literarische und philosophische Offenbarung des DOZ-Autoren, und auch nicht gedacht als persönlich zu nehmende Einleitung in einen Text über die Hauptakteure im wabernden Streit um die Entstehung, die Umsetzung und die weitere Entwicklung des Heil- und Hilfsmittelversorgungsstärkungsgesetz und dessen kommende neue Richtlinie. Das Wort-Ungetüm verbreitet seit einigen Wochen in seiner abgekürzten Form HHVG Angst und Schrecken in der Branche. Unabhängig davon, dass Anfang Mai ein Augenoptiker im DOZ-Verlag anrief und nachfragte, ob es denn richtig sei, dass die Augenoptiker ihr Refraktionsrecht verlören, hat diese Zeitschrift das Thema schon seit dem 16. Februar – also mit dem Beschluss des Bundestages zur Gesetzesänderung – in den Redaktionsplan aufgenommen. Doch nach dem Telefonat mit dem zunächst besorgten und anschließend etwas beruhigten Kollegen musste die Redaktion im Lexikon dann zur Sicherheit doch einmal die genaue Definition für BÄRENDIENST nachsehen. Der Dichter Jean de La Fontaine schließt seine Fabel „Der Bär und der Gartenliebhaber“ mit dem Eingangssatz dieses Berichtes – und Ingo Rütten machte sich als DOZ-Chefredakteur einmal daran, die Probleme, die „Freunde und Feinde“ des HHVG zu suchen, Informationen zu ordnen und einen Ausblick zu wagen. Das ist angesichts der offensichtlichen Ratlosigkeit und Verunsicherung, aber zuletzt vor allem wegen fehlender Übergangsregelungen und zig offenen Fragen gar nicht mal so einfach.

Einigen wir uns für den Moment und nur zur Vereinfachung darauf, dass der Gesetzgeber derjenige ist, der zumindest den Augenoptikern und Optometristen einen Bärendienst erwiesen hat. Wenngleich es allerdings nicht wenige Branchenkenner gibt, die auch die Versicherten als Leidtragende der neuen Regelung bezeichnen. Egal, die Frage nach dem Bären und dem Gärtner (siehe Kasten) ist unerheblich, denn das HHVG spaltet ohnehin die Branche; je länger das seit dem 11. April in Kraft getretene Gesetz seine Wirkung erzielen kann, desto mehr Diskussionsstoff scheint es zu bieten. Dass dieser Erregungsprozess etwas dauert und zunächst einmal Fahrt aufnehmen musste, spricht wiederum glücklicherweise dafür, dass längst nicht alle Augenoptiker von den neuen Regelungen besonders arg betroffen sind; wohlgemerkt gilt diese Aussage nur im Hinblick auf die Kundenzahl, auf die die Neuregelungen anzuwenden ist. Denn die berufspolitische Bedeutung hat es wahrlich in sich.

Richtlinie im dritten Quartal festgezurrt

Aber der Reihe nach. Denjenigen, die nur wissen wollen, wie es weiter geht, sei gesagt, dass Ende Juni nach einer Sitzung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) in Berlin die Hilfsmittelrichtlinie für das dritte Quartal 2017 festgezurrt  sein sollte. Dann wird klar sein, ob die  Augenoptiker und Optometristen Folgeversorgungen ausstellen dürfen und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Dass Sie das dürfen, ist eine der Mindestorderungen des Zentralverbandes der Augenoptiker und Optometristen (ZVA), der sich wohl letztlich damit anfreunden kann und ohnehin zunächst muss, wenn die Erstversorgung wie damals vor 2004 nur vom Augenarzt festgestellt werden kann. Der ZVA, dessen Rolle in diesem HHVG-Dilemma noch zu erzählen ist, wird vom GBA nur angehört, was bestenfalls persönlich in Berlin geschieht und schriftlich bereits in Arbeit ist.

Nach den Beratungen und Entscheidungen des GBA als oberstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland beginnt die Arbeit an den Festbeträgen und der Produktgruppe 25. Bis Ende des kommenden Jahres muss definiert werden, welche Sehhilfen mit welchen Beträgen von den Gesetzlichen Krankenkassen bezuschusst werden, wobei „bezuschusst“ schon falsch ist. Denn, das Gesetz gibt vor, dass der Versicherte ein „aufzahlungsfreies Produkt“ erhalten solle, also ein von der Krankenkasse zur Verfügung gestelltes funktionstüchtiges und kostenfreies Hilfsmittel. Hier erahnt und versteht man leicht, warum gerade Optometristen und Kontaktlinsenspezialisten aufstöhnen: Erstens haben sie besonders mit der Klientel zu tun, die aufgrund ihrer Fehlsichtigkeit einerseits in den Genuss der Krankenkassenleistung kommt und andererseits auch deswegen Kontaktlinsen statt einer Brille tragen (müssen). Und zweitens berücksichtigen die Festbeträge für Kontaktlinsen keinerlei Dienstleistung am Kunden, weder bei der Anpassung, noch bei Kontrollen, es wird praktisch nur das Produkt als erstattungswürdig angesehen.

Kontaktlinsenspezialist stellt eher nicht Basisversorgung dar

Ein Kontaktlinsenspezialist stelle aus Sicht der Krankenkasse nicht die Basisversorgung dar, vermutet Gunther Oesker von Müller-Welt Contactlinsen in Stuttgart. Er hat unter anderem durch das Know-how und die Erfahrung seiner Mitarbeiter eine höhere Gehaltsstruktur als manch ein Augenoptiker. Doch auch er erhält nur circa95 Euro je Linse für eine Erstversorgung, die immer mit formstabilen Linsen zu erfolgen hat. Doch der Dienstleistungsaufwand ist immens, „Material und Dienstleistung sind über diesen Festbetrag nicht darstellbar“, sagt Oesker,  der als ZVA-Delegierter für den Bundesverband mit in der betreffenden Arbeitsgruppe dafür zuständig, die Auswirkungen der Gesetzesänderungen speziell für die Kontaktlinsenanpasser möglichst annehmbar zu gestalten. Hierzu gehören auch bedeutend höhere Festbeträge für die Kontaktlinse.

Aber sind deutlich höhere Festbeträge auch bei Brillengläsern die logische Konsequenz und die Lösung aller durch das geänderte HHVG bereits entstandenen und zukünftigen Probleme? Vermutlich nicht! Die Diskussion ist längst entfacht, was denn besser sei, hohe oder möglichst niedrige Festbeträge, also die derzeit gültigen. Hohe Festbeträge haben für den Augenoptiker zunächst den vermeintlichen Vorteil, seinem Kunden zumindest „ohne eigene Verluste“ das benötigte Brillenglas liefern zu können. Mit einiger Gewissheit aber werden die Großen der Branche bei einem hohem Festbetrag gewisse Zusatzleistungen (kostenlos) anbieten, die heute eben den gewissen Unterschied bei einem Brillenglas ausmachen können. Von Seiten der Augenärzte, besser gesagt von deren Berufsverband, hört sich das wie im nebenstehenden Interview mit Professor Dr. Bernd Bertram an. Sinngemäß vertritt der BVA die Meinung, dass die Gefahr bestehe, Augenoptiker könnten versuchen, fehlende Einnahmen durch niedrige Festbeträge durch zweifelhafte Extras der Brillengläser auszugleichen. Bertram plädiert demzufolge für höhere Festbeträge, soweit möchte sich selbst der ZVA – zumindest offiziell – nicht aus dem Fenster lehnen.

Bärendienst

Vor rund 120 Jahren kam in Deutschland die Redensart „einen Bärendienst erweisen“ auf. Das lag daran, dass die Fabeln und Ge-schichten von Jean de La Fontaine zum Bestseller wurden. In seiner Geschichte des Bären, der einem befreundeten Gärtner eine lästige Fliege mithilfe eines gezielten Steinwurfes auf dessen Nase verscheuchen will, wurzelt die bekannte Redensart. Eine tote Fliege und ein ebensolcher Gärtner lassen einen einsamen Bären zurück, der zwar einen guten Willen und eine ausge-zeichnete Präzision beweist, eine gewisse Raffinesse und Intelligenz jedoch vermissen lässt.

Der BVA ist allerdings auch der Ansicht, das Gesetzt sei sauber formuliert und Menschen mit starken Fehlsichtigkeiten gingen ohnehin zunächst zum Augenarzt – und wenn nicht, so gehörten sie zumindest dorthin. Ja, darüber kann man tatsächlich nachdenken, unlogisch hören sich die Ausführungen von Professor Bertram jedenfalls nicht an. Jedoch sollte das HHVG doch eigentlich für die Versicherten eine Verbesserung darstellen und keine Bevormundung? Fakt jedenfalls ist, dass ein kleinerer Festbetrag bei den Brillengläsern nicht so ins Gewicht fällt, auch weil der Brillenträger kaum auf eine vernünftige Entspiegelung und eine Hartschicht verzichten wird. Letztlich hat er seit vielen Jahren gelernt, dass er zu zahlen muss. Man darf trotzdem gespannt sein, ob höhere oder niedrigere Festbeträge den Filialisten neue Kunden ins Geschäft spülen. Für Oesker, wohlgemerkt Geschäftsführer eines Kontaktlinseninstituts, stellt sich die Frage so nicht: „Die Krankenkassen  müssen nach der gesetzlichen Regelung mehrkostenfreie Hilfsmittel anbieten. Dafür sind Vertragspreise nötig, die maximal die Höhe des Festbetrages haben dürfen. Sicher werden die Großen einfache Brillengläser zum Festbetrag liefern. Wichtig ist es, die Höhe der Festbeträge zu optimieren.“

Dokumentationspflicht und Folgeversorgung auf Mängelliste

Was Augenoptiker mit dem Augenmerk Brille und Kontaktlinsenanpasser gleichermaßen trifft, ist die Dokumentationspflicht, die das HHVG mit sich bringt. Der bürokratische Aufwand ist wahrlich nicht zu unterschätzen, die Kunden müssen im Institut Oeskers zwei Unterschriften mehr als früher leisten, selbst das kann angesichts eines recht großen Einzugsgebietes deutlich mehr Aufwand bedeuten. Für den Versicherten stehen ja zudem noch der Besuch beim Arzt an, für den Augenoptiker unter anderem die Übermittlung der Mehrkosten und der ohnehin gestiegene EDV-Aufwand. Entsprechend steht die Dokumentationspflicht ebenso wie die Folgeversorgung ganz oben auf der Mängelliste des ZVA.

Bevor die offensichtlich von vielen zumindest unterschätzte, wenn nicht fehlinterpretierte Rolle des ZVA auch in diesem Text eine tragende wird, verlangt der rote Faden dieser Zeilen genau an dieser Stelle noch einmal die Frage nach einem möglichen Bären und dessen unglückliche Dienstleistung. Im Ergebnis dürfen die Augenoptiker und erst Recht die Optometristen über einen Bärendienst jammern, jedoch ist der ihnen nicht im eigentlichen Sinn der Redensart erwiesen worden. Denn der Gesetzgeber, so darf zumindest vermutet werden, hatte den Verbraucher im Kopf und wollte eine Regelung verbessern, die in der Tat Bedarf dazu hatte. Fraglich indes bleibt, warum so vieles „auf den letzten Drücker“ und noch dazu offensichtlich sehr bedacht hinter verschlossenen Türen in das Gesetz hinein diktiert wurde. Es ist müßig, darüber nachzudenken, wer da Regie geführt hat. Die heute noch offenen Fragen und Spekulationen um den wahren Kern der teils ohnehin schon kaum verständlichen Gesetzestexte sprechen aber für sich und die Eile, mit dem der Entwurf durch die nötigen Gremien geboxt wurde. Insofern könnte an den weisen Worten von Jean de La Fontaine gezweifelt werden, denn nicht der „dumme Freund“, sondern gewiss eher der „weise Feind“ könnte der augenoptischen Branche diesen Dienst beschert haben. Die Augenärzte seien schon seit Jahren darum bemüht, an die Augenoptik abgegebene und mit ihr geteilte Verordnungsrechte Stückchen für Stückchen wieder alleine für sich zu beanspruchen, heißt es an allen Ecken. Das geänderte HHVG passt zweifellos in diese Verschwörungstheorie

Hat „Notgrätsche“  Schlimmeres verhindert?

Torben Vahle, der als Referatsleiter beim Zentralverband des Deutschen Handwerkes (ZDH) in Berlin die Arbeitsgemeinschaft der Bundesverbände der Gesund-Änderungsplänen der Sehhilfeversorgung bis Anfang dieses Jahres genauso so viel: nichts! Obwohl er Anfang 2015 erstmals Einblicke in erste Arbeitspapiere erhaschen konnte. Nein, Vahle übersah nichts, es stand nichts dazu in den Entwürfen. Erst kurz vor den letzten Lesungen im Bundestag, also zu einem Zeitpunkt als öffentlich nicht mehr über den Inhalt des Gesetzesentwurfes diskutiert wurde, kam der Passus „Sehhilfen“ hinein. Wir haben in der DOZ in den vergangenen Ausgaben bereits ausführlich darüber berichtet, aber diese Wiederholung ergänzt diese Geschichte und verdeutlich eindrucksvoll die Anstrengung, mit der nun der aufmerksam gemachte ZVA die bald schon finalen Gesetzestexte zu verändern versuchte. Vahle nennt es „eine Notgrätsche, mit der der ZVA noch Schlimmeres für die Branche verhindern konnte“. Denn die Ursprungsversion des Änderungsantrages habe einen deutlich weitreichenderen Eingriff in die Versorgungspraxis vorgesehen.

„Dieser Ursprungsplan hätte den kompletten Markt abgewürgt und ein Versorgungschaos verursacht“, erklärt Dr. Jan Wetzel, der in seiner Funktion als ZVA-Geschäftsführer sofort proaktiv auf die Beteiligten zuging, um ihnen die Folgen ihres Plans zu verdeutlichen. „Wenn die Krankenkassen schon bei einem freien  Visus kleiner als 0,1 in Leistung getreten wären, wie es zunächst geplant war, hätten das Kosten in einer Höhe von bis zu einer Milliarde Euro jährlich zur Folge gehabt. Der ZVA hat glücklicherweise von diesen Plänen erfahren und die Situation ganz offensichtlich auch richtig gedeutet“, meint Dr. Wetzel, der indes den direkten Einfluss des Bundesverbandes auf das Endresultat nicht näher bemessen kann, weil die anschließenden Diskussionen weiterhin nicht öffentlich waren. Letztlich aber hat es anscheinend gewirkt, dass der ZVA alle relevanten Stellen mit seiner Sicht der Dinge angeschrieben hat, denn der Kreis der Anspruchsberechtigten wurde durch das Anheben der für eine Krankenkassenleistung nötigen bekannten Dioptriewerte drastisch verkleinert.

Augenoptiker im luftleeren Raum

Es ist kaum vorstellbar, was heute los wäre, wenn alle Fehlsichtigen mit einem freien Visus von kleiner als 0,1 eine Verordnung vom Augenarzt benötigten – immer vorausgesetzt, sie wollten auch den Leistungsanspruch bei der Krankenkasse geltend machen. Thomas Truckenbrod spricht dennoch von einem „luftleeren Raum“, in dem sich die Augenoptiker derzeit befinden. Die Innungsmitglieder erhielten zwar umgehend eine Handlungsempfehlung, aber es sind zu viele Fragen offen, die der ZVA auch nicht so einfach beantworten kann. Eine Meinung indes hat der Verband mitsamt einigen Forderungen in sein Positionspapier gepackt, das einen Einblick darüber gibt, mit welchen Waffen mittlerweile gekämpft wird. Das Positionspapier ist unter www.zva.de/positionspapiere einzusehen, auch für Nicht-Innungsmitglieder, die sonst beim Stichwort „Informationsbeschaffung zum HHVG“ eher im Nachteil sein dürften. „Es wäre schon sehr ungerecht, wenn wir unsere Empfehlungen auch an Nicht-Mitglieder heraus geben würden“, lässt sich Truckenbrod an dieser Stelle aber nicht den schwarzen Peter zustecken.

Die Frage nach einem Schuldigen ist –  wie so häufig – angesichts der eingetretenen Situation überflüssig. Trotzdem kamen entscheidende Impulse für die Entwicklung auch aus der Branche, noch dazu aus dem Lager der Kontaktlinsenspezialisten: Ein Kunde eines Interlens-Mitgliedes klagte vor einigen Jahren mit dessen Hilfe vor dem Sozialgericht, weil er mit einer Kontaktlinse auf einem Auge eine solch gute Sehschärfe erreichte, dass er nicht mehr als sehbehindert galt und somit sein Anspruch auf eine Leistung der Gesetzlichen Krankenkasse erloschen war. Der Unsinn der alten Richtlinie ist ebenfalls hinlänglich bekannt, insofern bietet das neue Gesetz ganz eindeutig eine fairere Lösung für die Versicherten. Der beschriebene Fall ging 2016 bis an das Bundessozialgericht, das in der Folge dem Gesetzgeber empfahl, das Gesetz zu überarbeiten.

HHVG
Der finale HHVG-Text hat mit dem ersten Änderungsantrag nicht mehr viel zu tun.

Zumindest dem Bären sind wir also auf die Spur gekommen, ohne die zugrunde liegende Redensart allzu wörtlich zu nehmen und mit dem Hinweis versehen, dass der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband durch seine Initiative einen ebenso erheblichen Anteil an der heutigen Misere der Augenoptiker und Optometristen hat. Es bleiben dennoch nach wie vor viele Fragen offen, zwei weitere zum guten Schluss, um dieser Story das verdiente wie logische offene Ende zu geben: Warum erinnerte sich erst im Januar jemand an die Empfehlung des Bundessozialgerichtes? Und wann werden die neuen Richtlinien für die im Gesetz niedergeschriebene Präqualifizierungspflicht zum Tragen kommen?

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