Sehen im Straßenverkehr - Teil 2
Regelmäßig verpflichtende Sehtests, speziell bei älteren Menschen, sind eine häufig formulierte Forderung an den Gesetzgeber. Unbestritten ist gutes Sehen eine Grundvoraussetzung für eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr als Fahrer eines Pkws, jedoch werden die Anforderungen, die an das Sehen eines Autofahrers von Seiten des Gesetzgebers gestellt werden, meistens überschätzt. In einer dreiteiligen Artikelserie werden die Aspekte rund ums Sehen im Straßenverkehr von unterschiedlichen Seiten beleuchtet.
Sehfunktionen und ihre Bedeutung im Straßenverkehr
Die Fahrerlaubnisverordnung (FeV) schreibt vor, dass Bewerber für den Führerschein der Klassen AM, A1, A2, A, B, B1, BE, L oder T (Pkw, Motorrad usw.) lediglich einen Sehtest, bei dem die Seh- schärfe nach standardisierten Verfahren geprüft wird, ablegen müssen. Bewerber für einen Führerschein der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE (Lkw, Bus, usw.) haben sich hingegen einer Prüfung ihres Sehvermögens zu unterziehen (FeV Anlage 6, Nr. 2). Als Sehvermögen wird hier die Summe aller Sehfunktionen definiert, also Seh- schärfe, Farbensehen, Gesichtsfeld, Dämmerungssehen, Kontrastempfindlichkeit und Binokularsehen einschließlich der Motilität beider Augen.
Sehschärfe
Die Sehschärfe ist die Sehfunktion, die am häufigsten überprüft wird. Sie zeichnet sich, da sie sich durch einen einzigen Zahlenwert darstellen lässt, durch ein hohes Maß an Anschaulichkeit aus. Bei jeder Verschlechterung des Sehens wird zunächst die Sehschärfe bestimmt. Erkrankungen der Makula, Störungen der Augenbewegungen oder neurologische Erkrankungen der Sehbahn sind häufig die Ursache einer Verschlechterung der Sehschärfe. Ein gravierender Nachteil der Sehschärfe ist jedoch ihre geringe Sensitivität, vor allem im Hinblick auf Trübungen von Hornhaut und Augenlinse. Die Kontrastempfindlichkeit hat hier eine deutlich höhere Aussagekraft. Auch beim Glaukom ist eine hohe Sehschärfe dann noch erreichbar, wenn bereits die Hälfte der Fasern des Sehnervs verloren gegangen ist. [5]
Abb. 6: Außerhalb des äußeren Kreises, der einen Radius von 10 Grad hat, liegt die Sehschärfe unter 0,2. Die Fovea, wo allein eine Sehschärfe von 1,0 und mehr möglich ist, nimmt nur 0,01 Prozent der Fläche der Netzhaut ein.
Abgesehen von Berufskraftfahrern ist die Sehschärfe die einzige visuelle Funktion, die bei Führerscheinbewerbern überprüft wird. Ihr großer Vorzug gegenüber anderen Sehfunktionen liegt darin, dass sie einfach zu bestimmen ist. Die ermittelte Sehschärfe ist die Sehschärfe, die in der Fovea erreicht werden kann. Die Fovea nimmt nur etwa 0,01 Prozent der Gesamtfläche der Netzhaut ein, sodass 99,99 Prozent der Netzhaut durch die Bestimmung der zentralen Sehschärfe nicht erfasst werden.
Eine Sehschärfe von mindestens 0,5 auf dem besseren und 0,2 auf dem schlechteren Auge wird in den meisten Ländern der Welt als Mindeststandard für das Führen eines Kraftfahrzeugs verlangt. Für diese Grenze gibt es keine strenge physiologische Begründung. [4] Der International Council of Ophthalmology führt an, dass eine Sehschärfe von 0,5, die unter optimalen Bedingungen gemessen worden ist, noch genügend Funktionsreserven für das Sehen unter ungünstigen Sehbedingungen (z. B. Dunkelheit, Regen oder Nebel) zulässt. [1] Wird der von der FeV vorgeschriebene Sehtest durch einen Augenoptiker durchgeführt, gilt ein Grenzwert von 0,7. Wird dieser Wert auch mit bester optischer Korrektion nicht er- reicht, ist eine weitergehende Untersuchung durch einen entsprechend qualifizierten Arzt vorgeschrieben. Hier gelten die oben aufgeführten Grenzwerte von 0,5 auf dem besseren und 0,2 auf dem schlechteren Auge. Selbst Einäugigkeit gilt nicht als Ausschließungsgrund, hier kann der Führerschein immer noch erworben werden, sofern eine Sehschärfe von 0,6 erreicht wird.
Die Sehschärfe bleibt von der Jugend bis ins Alter über viele Jahrzehnte konstant auf einem hohen Niveau. Eine schwedische Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass 86 Prozent aller 70-Jährigen und nahezu jeder zweite 82-Jährige noch über einen Visus von mindestens 0,8 verfügten. [6] Zwei Drittel aller 82-Jährigen hatten eine Sehschärfe von mindestens 0,5 und wären damit noch berechtigt, ein Kraftfahrzeug zu führen. Nur drei Prozent aller 70-Jährigen hatten eine Sehschärfe von weniger als 0,5 und wären somit nicht mehr berechtigt, ein Kraftfahrzeug zu führen. Mit weiterem Fortschreiten des Lebensalters nimmt die Sehschärfe sehr schnell ab. Eine regelmäßige Überprüfung der Sehschärfe bei Erwachsenen unter 65 Jahren wird nur in seltenen Fällen eine Auffälligkeit neu aufdecken, sodass ein regelmäßiger Sehtest nur wenig Zusatznutzen bringt. Ab dem 65. Lebensjahr ist eine regelmäßige Prüfung der Sehschärfe sinnvoll, da die Zahl der Personen mit geringer Sehschärfe altersbedingt deutlich ansteigt.
Das Erkennen eines Verkehrszeichens stellt nur moderate Anforderungen an die Sehschärfe. Verkehrszeichen gibt es in drei Größenklassen, die von der jeweiligen zulässigen Höchstgeschwindigkeit, die auf der Straße gefahren werden darf, abhängen. In geschlossenen Ortschaften so- wie auf Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften stehen Verkehrszeichen der Größenklasse 2. Die runden Verkehrszeichen (Ronde) haben einen Durchmesser von 60 Zentimeter. Die Zeichen zur Angabe der erlaubten Höchstgeschwindigkeit sind 25 Zentimeter hoch und die Sehschärfe niedriger ist als in der Fovea. In einer Entfernung von 400 Metern wird die Geschwindigkeitsangabe auf dem Schild folglich nicht erkannt werden. Das Verkehrszeichen, das in dieser Entfernung aber in seiner Gesamtheit erkannt wird, stellt einen äußeren (exogenen) Reiz dar, der eine Sakkade auslöst, die zu einer zentralen Abbildung des Verkehrsschildes führt und damit das Erkennen der Geschwindigkeitsangabe ermöglicht. Diese exogene Orientierung erfolgt reflektorisch und automatisch aufgrund von Veränderungen im peripheren Gesichtsfeld.
Es gibt nur wenige Verkehrssituationen, die eine hohe Sehschärfe erfordern; andere Sehfunktionen wie die Kontrastempfindlichkeit, das Gesichtsfeld oder die Bewegungswahrnehmung werden im Straßenverkehr sehr viel stärker gefordert.
Verkehrszeichen der Größenklassen 1 werden in Verkehrszonen verwendet, bei denen eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h nicht überschritten wird. Die Größe dieser Verkehrszeichen beträgt 75 Prozent der Größe der Verkehrszei chen der Größenklasse 2. An Straßen, auf denen eine Höchstgeschwindigkeit von mehr als 100 km/h zugelassen ist, stehen Verkehrszeichen der Größen klasse 3, die 125 Prozent der Größe der Verkehrsklasse 2 haben.
Gesichtsfeld
Unfälle werden nur selten durch Ein- bußen des zentralen Sehens verursacht, bedeutsamer ist hier das periphere Sehen, das anhand des Gesichtsfeldes überprüft werden kann. Mehr als die Hälfte aller Unfälle mit Personenschäden, an denen ältere Menschen beteiligt sind, geht auf Fehler beim Abbiegen und Missachtung der Vorfahrt zurück. [3] Sowohl beim Ab- biegen als auch bei der Beachtung der Vorfahrtsregeln kommt es auf die periphere Wahrnehmung an. Peripheres Sehen ist Voraussetzung für das Erkennen des entgegenkommenden Verkehrs, von Radfahrern und Fußgängern am Straßenrand oder des seitlichen Verkehrs an Einmündungen und Kreuzungen.
Das Gesichtsfeld umfasst alle Objekte, die bei unbewegtem Auge und Kopf gesehen werden können. Es ist monokular definiert; diese strenge Definition des Gesichtsfeldes ist für den Straßenverkehr nicht zwingend, da in der Regel mit beiden Augen gesehen wird. Die FeV (Anlage 6.1.2.2) verlangt daher ein normales Gesichtsfeld eines Auges oder ein gleichwertiges beidäugiges Gesichtsfeld mit einem horizontalen Durchmesser von mindestens 120 Grad, insbesondere muss das zentrale Gesichtsfeld bis 20 Grad normal sein. Das Gesichtsfeld sollte mit überschwelligen Reizen an mindestens 100 Orten geprüft werden; es wird also keine Schwellenwert-Perimetrie verlangt.
Halbseitige Gesichtsfeldausfälle (homonyme Hemianopsie) sind häufig die Folge von Schlaganfällen im Bereich der Sehbahn hinter dem Chiasma. Die horizontale Ausdehnung des Gesichtsfeldes liegt dann weit unter dem geforderten Wert von 120 Grad. Etwa jeder zehnte Schlaganfall hat einen solchen dauerhaften Gesichtsfeldausfall zur Folge. Rund 70 Prozent aller Hemianopsien sind durch einen Schlaganfall verursacht. Eine Hemianopsie wirkt sich auch für einen Fußgänger nachteilig aus. Gegenstände und Personen in den ausgefallenen Gesichts- feldhälften werden übersehen. Es kommt wiederholt zu Kollisionen mit Menschen und Gegenständen, Verletzungen stehen auf der Tagesordnung.
Gesichtsfeldausfälle können auch durch eine fehlende oder unzureichende Korrektion einer Fehlsichtigkeit verursacht werden. Diese diffusen Gesichtsfeldausfälle steigern das Risiko, ein Objekt am Straßenrand oder ein entgegenkommendes Fahrzeug zu übersehen. Personen, die ihre Gesichtsfeldausfälle kennen, können, solange die Ausdehnung der Gesichts- feldausfälle nicht zu groß ist, ihr visuelles Defizit auch durch Einstellen der Rückspiegel oder Kopfbewegungen teilweise kompensieren.
Farbensehen
Die Bedeutung des Farbensehens für den Straßenverkehr ist als gering einzuschätzen. In der FeV sind daher keine wesentlichen Einschränkungen selbst für die Eignung als Berufskraftfahrer vorgesehen. Hier heißt es in der FeV lediglich: „Bei Rotblindheit oder Rotschwäche mit einem Anomalquotienten unter 0,5 ist eine Aufklärung des Betroffenen über die mögliche Gefährdung erforderlich.“
Farben spielen im Straßenverkehr eine geringere Rolle als beispielsweise im Schienenverkehr oder in der Schifffahrt, da im Straßenverkehr Farben nahezu nie isoliert, sondern immer in einem Kontext auftreten. Bei der Ampel ist das rote Licht oben. Das Rot der Verkehrsschilder (Verkehrsrot RAL 3020) wird im RGB-Farbsystem durch die Werte 180/30/16 beschrieben, das heißt es enthält auch noch Grün- und Blauanteile, sodass es auch von einer protanopen Person noch wahrgenommen werden kann. Im CMYK-Farbmodell wird Verkehrsrot durch die Werte (0, 100, 100, 10) angegeben, das heißt neben Magenta sind auch Gelb- und Schwarzanteile im Rot vorhanden.
Bei Protanopen, die über keine funktionsfähigen Rotrezeptoren in der Netzhaut verfügen, ist das sichtbare Spektrum zu längeren Wellenlängen verkürzt. Diese Personen können bei ungünstigen Witterungsbedingungen wie starkem Regen oder Nebel Schwierigkeiten haben, die Rücklichter von voranfahrenden Autos zu erkennen, da unter diesen Bedingungen die Farben stark entsättigt sind.
Dämmerungssehen und Kontrastempfindlichkeit
Die FeV zieht keine scharfe Trennlinie zwischen Dämmerungssehen und Kontrastempfindlichkeit: „Ausreichendes Kontrast- oder Dämmerungssehen werden geprüft mit einem standardisierten anerkannten Prüfverfahren einschließlich Prüfung der Blendempfindlichkeit.“ Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Dämmerungssehen bei den bekannten Prüfgeräten (Mesotest, Mesoptometer, Nyktometer) mittels einer Messung der Kontrastempfindlichkeit bei geringen Leuchtdichten geprüft wird. Das Kontrast- sehen ist aber nicht nur in der Dämmerung wichtig, auch bei Tageslichtbedingungen ist eine ausreichende Kontrastempfindlichkeit im Straßenverkehr erforderlich. Die Bedeutung der Kontrastwahrnehmung wird deutlich höher eingeschätzt als die der Sehschärfe. In einer retrospektiven Untersuchung konnte Owsley zeigen, dass Fahrer, die einen Verkehrsunfall verursacht hatten, achtmal häufiger unter Einbußen der Kontrastempfindlichkeit litten als Fahrer, die keinen Unfall verursacht hatten. [7]
Das Autofahren in der Nacht erfolgt aus lichttechnischer Sicht nicht in der Nacht, sondern in der Dämmerung, da der Autofahrer nur Objekte innerhalb oder am Rand des Scheinwerferkegels wahrnimmt. Als Dämmerung gilt der Leuchtdichtebereich von 0,01 cd/m² (Vollmond bei wolkenlosem Himmel) bis 10 cd/m². In einer Großstadt liegen während der Nacht bei eingeschalteter Straßenbeleuchtung Leuchtdichten zwischen 1 und 10 cd/m² vor. Das Sehen in der Dämmerung gilt als sehr anstrengend, da hier die Zapfen und Stäbchen gleichzeitig aktiv sind und um gemeinsame Weiterleitung ihrer Informationen im Sehnerven konkurrieren.
Die ersten Einbußen der Kontrastempfindlichkeit machen sich bereits ab dem 40. Lebensjahr bemerkbar. Etwa 70 Prozent aller Personen, die älter als 60 Jahre sind, benötigen im Vergleich zu einem 20-Jährigen einen mehr als dreimal höheren Kontrast, um die gleiche visuelle Leistungsfähigkeit zu erreichen. [8] Die altersbedingt verminderte Kontrastempfindlichkeit erschwert das Erkennen und Unterscheiden von Objekten, wobei die Probleme in der Dunkelheit stärker zu Tage treten als im Hellen. Ältere Menschen haben daher häufig Schwierigkeiten beim Sehen in kontrastarmen Umgebungen; dunkel gekleidete Fußgänger am Straßenrand oder Radfahrer ohne Beleuchtung werden schlechter erkannt.
Die Trübung der Augenlinse führt zur Verminderung der Kontrastempfindlichkeit. Streulicht beim Rindenstar senkt den Kontrast des Netzhautbildes bei gleichzeitig erhöhter Blendungsempfindlichkeit. Die starke Lichtabsorption beim Kernstar bedingt ein dunkleres Netzhautbild, wodurch sowohl die Sehschärfe als auch die Kontrastempfindlichkeit leiden. Kataraktoperationen können das Risiko von Verkehrsunfällen vermindern. Nach Angaben der American Academy of Ophthalmology sinkt die Zahl der Verkehrsunfälle nach einem derartigen Eingriff um 12,8 Prozent. [9] Bei älteren Menschen, die sich nach einer Katarakt eine multifokale Intraokularlinse haben implantieren lassen, muss wegen der besonderen optischen Bedingungen dieses Linsentyps von einer Verschlechterung der Kontrastempfindlichkeit und Schwierigkeiten beim Sehen in der Dunkelheit ausgegangen werden.
Bei jüngeren Menschen kann es zu Verschlechterungen des Dämmerungssehens und der Kontrastempfindlichkeit nach refraktivchirurgischen Operationen an der Hornhaut (Lasik, Lasek, PRK usw.) kommen. Gleiches gilt auch für die Orthokeratologie. Beide Verfahren verändern die Hornhauttopografie. Die zentrale Hornhaut wird abgeflacht; die periphere Hornhaut bleibt aber weitgehend unberührt, sodass eine bifokale Hornhaut mit einer korrigierten Hornhautmitte und einer unkorrigierten Hornhautperipherie entsteht. Bei weiter Pupille entstehen so zwei Netzhautbilder. Das scharfe, von der korrigierten Hornhautmitte erzeugte, Netzhautbild wird vom unscharfen Netzhautbild der unkorrigierten Hornhautperipherie überlagert – mit der Folge eines reduzierten Netzhautkontrastes.
Eine weitere, aber leicht zu behebende Ursache einer verminderten Kontrastempfindlichkeit ist eine nicht oder nur unzureichend korrigierte Fehlsichtigkeit. Diese wirkt sich am stärksten auf höhere Ortsfrequenzen aus, wodurch das Erkennen von Objektdetails erschwert wird.
Binokularsehen und Motilität
Da die Fovea nur einen sehr kleinen Bereich der gesamten Netzhaut ausmacht, sind Augenbewegungen erforderlich, um Objekte, die zunächst auf die periphere Netzhaut, wo nur eine niedrige Sehschärfe erreichbar ist, abgebildet worden sind, auf die Netzhautmitte abzubilden. Die Fahrerlaubnis für einen Pkw kann auch dann erteilt werden, wenn der Bewerber nur ein Auge hat und die Sehschärfe dieses Auges mindestens 0,6 ist. Eine Person gilt nach der FeV bereits als einäugig, wenn auf einem Auge die Sehschärfe unter 0,2 liegt. Bei Einäugigkeit wird eine ausreichende Beweglichkeit des besseren Auges vorausgesetzt. Einäugigkeit ist ein Ausschließungsgrund für den Erwerb der Fahrerlaubnis als Berufskraftfahrer. Schielen ist, wenn es im zentralen Blickfeld keine Doppelbilder gibt, kein Ausschließungsgrund für Pkw-Fahrer. Strenger sind die Anforderungen an Berufskraftfahrer. Hier dürfen im Gebrauchsblickfeld (25 Grad nach oben, 40 Grad nach unten und 30 Grad horizontal) keine Doppelbilder auftreten.
Beim Fahren auf einer unbekannten Straße schweifen die Augen in einem großen Bereich des visuellen Umfelds umher, im Mittel aber sind die Augen – Rechtsverkehr vorausgesetzt – überwiegend auf die rechte Straßenseite, wo die Verkehrszeichen stehen, ausgerichtet. Ist der Fahrer mit der Route vertraut, ist der Bereich, auf den die Augen ausgerichtet sind, deutlich kleiner. Im Mittel sind die Augen dann mehr nach links zur Fahrbahnmitte hin orientiert. Fahranfänger überblicken im Vergleich zu erfahrenen Fahrern nur einen kleinen Bereich der vor ihnen gelegenen visuellen Umwelt. Die Augen sind vor allem auf die Fahrbahn direkt vor dem Fahrzeug orientiert. Weitere Bereiche, auf die die Augen schauen, sind Verkehrszeichen am rechten Fahrbahnrand und Fahrbahnmarkierungen. [10]
Ein Verkehrszeichen wird zunächst auf die periphere Netzhaut abgebildet. Je mehr man sich dem Verkehrszeichen annähert, desto größer ist der Winkel, um den sich die Augen drehen müssen, um das Verkehrszeichen zentral auf die Netzhaut abzubilden. Bei Annäherungen bis auf 50 Meter an das Verkehrszeichen müssen die Augen um weniger als zehn Grad gedreht werden. Sind größere Drehbewegungen erforderlich, werden unterstützend Kopfbewegungen durchgeführt.
Stereopsis wird für die Erteilung der Fahrerlaubnis nicht vorausgesetzt. In den meisten Fällen befinden sich die Sehobjekte im Straßenverkehr in mittleren und großen Entfernungen vom Fahrzeugführer entfernt, für die eine querdisparate Tiefenwahrnehmung keine nennenswerte Rolle spielt. Ab einer Entfernung von 30 Metern ist der Nutzen der querdisparaten Tiefenwahrnehmung zu vernachlässigen. Hier werden sekundäre Tiefenmerkmale wie zum Beispiel Verdeckung oder relative Größe zur Abschätzung der räumlichen Tiefe herangezogen. Beim Einparken kann eine querdisparate Tiefenwahrnehmung nützlich sein, ist aber nicht die Voraussetzung für ein kollisionsfreies Einparken. Neuere Pkw verfügen zunehmend über Einparkhilfen, sodass die räumliche Tiefenwahrnehmung durch andere, zuverlässigere Informationen über den Abstand zum nächsten Fahrzeug ersetzt werden kann.
Bewegungswahrnehmung
Das visuelle Umfeld ist aufgrund der ständigen Bewegungen aller Verkehrsteilnehmer nicht statisch. Die Lichtverteilung auf der Netzhaut, aus der das visuelle System ein Bild der Außenwelt rekonstruiert, ändert sich kontinuierlich, weshalb der Wahrnehmung von Bewegungen im Straßenverkehr eine große Bedeutung zukommt.
Auf zweispurigen Straßen ist ein sicheres Überholen nur möglich, wenn die Entfernung und die Geschwindigkeit eines entgegenkommenden Fahrzeugs zuverlässig abgeschätzt werden können. Das gleiche gilt auch für das Linksabbiegen, wenn keine Ampeln den Verkehr regeln. Das Fahren in einer Kolonne setzt ebenfalls eine gute Bewegungswahrnehmung vor- aus. Bremst das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich ab, kommt es zum Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug, wenn man die Verzögerungsrate dieses Fahrzeugs unterschätzt und selbst nicht stark genug abbremst. Bremst man zu stark ab, kann das nachfolgende Fahrzeug auffahren. Eine korrekte Abschätzung der Geschwindigkeitsveränderung des vorausfahrenden Fahrzeugs ist folglich die Voraussetzung zur Vermeidung eines Auffahrunfalls.
Das Erkennen eines entgegenkommenden Fahrzeugs, wofür die Sehschärfe ausreichend wäre, liefert nur die Information, dass ein Fahrzeug entgegenkommt. Die Sehschärfe trägt aber nur wenig zur Entscheidungsfindung bei, ob ein Überholvorgang noch gestartet werden kann oder besser unterbleiben sollte. Die entscheidende Information ist hier die wahrgenommene Größenzunahme des sich nähernden Fahrzeugs. Aus der Geschwindigkeit, mit der sich die Netzhautbildgröße ändert, berechnet das Gehirn die Zeit, die noch zum Überholen verbleibt.
Ein Objekt, dessen Größe L sei, befindet sich zum Zeitpunkt t im Abstand x(t) vom
Knotenpunkt des Auges eines Betrachters. Die Größe des Netzhautbildes sei dabei l. Nähert sich das Objekt dem Betrachter an, vergrößert sich das Netzhautbild. Die Größe des Netzhautbildes ändert sich mit der Zeit. Aus Abbildung 14 lässt sich mit einfachen geometrischen Überlegungen die Größe des Netzhautbildes herleiten:
l(t) = – f L/ x
Die hohe Dichte im Straßenverkehr lässt kein unabhängiges Autofahren zu, viel- mehr bewegt sich der Verkehr häufig in Kolonnen vorwärts. Unter Kolonnenverkehr versteht man die Fortbewegung von mindestens drei dicht aufgeschlossenen Fahrzeugen in derselben Richtung bei nahezu gleicher Geschwindigkeit. Da die Abstände zwischen den einzelnen Fahr- zeugen einer Kolonne häufig gering sind, stellt diese Verkehrssituation große Anforderungen an die Verarbeitung von Bewegungsinformationen aus der Umwelt. Bei Entfernungen von weniger als 20 Metern führen geringfügige Variationen des Abstands zu deutlich veränderten Größen der Netzhautbilder (siehe Abb. 15). Eine starke Zunahme der Netzhautbildgröße liefert die Information, den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug durch Reduzierung der eigenen Geschwindigkeit wieder zu vergrößern.
Die Bewegungswahrnehmung ist auch Teil der Verarbeitungsprozesse des Gehirns, durch die Informationen über Objekte und deren Hintergrund aus der Lichtverteilung auf der Netzhaut extrahiert werden, ein Vorgang der als Segmentierung bezeichnet wird. Objektpunkte, die sich mit gleicher Geschwindigkeit in die gleiche Richtung bewegen, werden vom Gehirn zusammengefasst und als ein Objekt interpretiert (structure from motion).
Text, Fotos und Grafiken von Dr. Andreas Berke
Die vollständige Literaturliste wird am Ende der dreiteiligen Artikelserie zum Download im DOZ-Branchenportal bereitstehen.