"Die Zukunft der Augenoptik ist interdisziplinär"
Der Taschenbuch-Ratgeber "Entspannt am Smartphone, Tablet und PC" kann ein Leitfaden für Augenoptikerinnen und Augenoptiker sein, ihr Spezialfeld Sehen interdisziplinär zu betrachten. Daraus ergeben sich neue Chancen und Möglichkeiten für eine hochwertige Beratung ihrer Kundinnen und Kunden.
Gekürzte Erstveröffentlichung in der DOZ 01|23
Frau Dr. Friedrich, warum fällt es uns so schwer das Smartphone auszuschalten?
Dr. Michaela Friedrich: Ganz einfach: Jedes digitale Endgerät fesselt die Aufmerksamkeit. Und genau darauf sind wir Menschen seit Jahrtausenden genetisch programmiert. Man braucht also Bewusstsein und einen starken Willen, das Smartphone auch mal auszulassen.
Ist eines der drei Endgeräte Smartphone, Tablet oder PC „gesünder zu bedienen“ als das andere? Oder rufen diese nur unterschiedliche Beschwerden hervor?
In Bezug auf Sehen und Haltung gibt es natürlich Unterschiede. Die kleineren Displays und kürzeren Abstände bei Verwendung von Smartphones fordern das Sehsystem am meisten und lassen uns eine ungesunde Haltung einnehmen. Also von dem her wären größere Displays/Bildschirme und ein größerer Abstand gesünder. Außerdem spielt die Zeit eine Rolle - das betrifft natürlich alle digitalen Endgeräte. Der Mensch ist einfach nicht für dauerhaftes Sitzen und Fokus auf Bildschirme/Displays gemacht, sondern für Bewegung. Also gesünder wäre es demzufolge, die Zeiten mit digitalen Medien zu reduzieren und mehr Bewegung in den Alltag zu bringen.
Neben der Arbeit verbringen die Menschen auch in ihrer Freizeit viel Zeit an Bildschirmen. Welche negativen Entwicklungen sind hier sichtbar und welche Auswirkungen könnten sich zukünftig bemerkbar machen?
Das ist genau der Punkt, dass wir digitale Endgeräte nicht nur beruflich nutzen, sondern zunehmend privat. Die Auswirkungen sind bereits sichtbar: Durch den Bewegungsmangel und ständigen Stress, den wir durch digitale Endgeräte haben, wie ständige Erreichbarkeit oder erwartete Antwort etc., ergeben sich körperliche Auswirkungen wie Seh- und Haltungsstörungen sowie psychische Auswirkungen (Stress, der in den Burn Out führt). Durch die pandemiebedingten Maßnahmen sind die psychischen Erkrankungen in Deutschland mittlerweile auf Platz eins. Eine sehr erschreckende und alarmierende Entwicklung.
Was können Sie bezüglich der Gesundheit am häufigsten beobachten, zum Beispiel, wenn Sie einen Vergleich ziehen zwischen der Generation der Babyboomer und der Generation Y bis Z? Kann man sagen, dass frühere Generationen aktiver waren?
Es gibt vielfältige Studien und Statistiken, die belegen, dass Kinder und Erwachsene zunehmend weniger Bewegung haben. Durch den Bewegungsmangel kommt es zum Abbau der Muskulatur, die zu gesteigertem Unfallrisiko bis hin zu Übergewicht oder sogar Adipositas führen kann. Außerdem stehen Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Stoffwechselerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes bis hin zu Herzkrankheiten ganz oben auf der Liste der Erkrankungen durch Bewegungsmangel. Deshalb empfiehlt die WHO auch für Kinder mindestens eine Stunde Bewegung pro Tag und für Erwachsene mindestens drei Mal pro Woche.
Welche Beschwerden visueller Natur hängen mit zu viel Bildschirmzeit zusammen? Kommen zuerst die visuellen Beschwerden und dann die körperlichen wie Rückenschmerzen? Wie erkenne ich einen Zusammenhang zwischen falscher Haltung und zu viel Bildschirmzeit?
Typische visuelle Beschwerden sind zum Beispiel Unscharfsehen, Doppeltsehen, Augentränen, trockene Augen, Kopfschmerzen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Typische Beschwerden aufgrund unnatürlicher Haltung sind Nacken- und Rückenschmerzen. Es ist eine gute Frage, was zuerst da war. Das ist individuell verschieden. Letztlich werden immer beide Systeme betroffen sein, weil das visuelle System mit dem Haltungssystem sowohl anatomisch als auch funktionell verbunden ist. Deshalb sprechen wir auch von einem charakteristischen Symptomkomplex bzw. Syndrom.
Gibt es überhaupt ein ideales Nutzungsverhalten, wenn man, wie viele Arbeitnehmer, beruflich schon acht Stunden am Bildschirm verbringen muss?
Niemand muss acht Stunden am Stück am Bildschirm verbringen. Die Arbeitgeberinnen und -geber sind gesetzlich verpflichtet, den Bildschirmarbeitsplatz entsprechend auszustatten, Pausen einzuhalten und auch präventive Maßnahmen oder Maßnahmen bei bereits auftretenden Störungen anzubieten. Aber mittlerweile haben viele Arbeitnehmerinnen gar keinen Bildschirmarbeitsplatz mehr, sondern arbeiten „mobil“ – ein Trick, denn dann spielt das gesetzlich kaum mehr eine Rolle – im Gegensatz zum offiziellen „Homeoffice“ oder der sogenannten „Telearbeit“, wo der Arbeitgeber sich um Equipment und Arbeitssicherheit kümmern muss. Und was jeder in seiner Freizeit macht, das wird staatlich und gesetzlich nicht reglementiert, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Damit entstehen deutlich höhere Zeiten als acht Stunden täglich – und das freiwillig!
Wie gehe ich als Augenoptikerin/Optometristin vor, wenn ich verschiedene Kundenprofile habe. Zum Beispiel den jung-presbyopen Digital Native, der täglich acht Stunden am Laptop arbeitet und quasi mit dem Smartphone als Kissen ins Bett geht und mit Nackenschmerzen zu mir kommt, im Vergleich mit der unter Migräne leidenden Mittfünfzigerin, die als Bankberaterin tätig ist, in ihrer Freizeit gerne Handarbeiten verrichtet und über den Tag nur eine Brille nutzen will?
Die optometrische Untersuchung ist gleich. Nur die Anamnese liefert unterschiedliche Ausgangssituationen und darauf müssen wir in der Beratung eingehen. Natürlich ist es wichtig, für jeden die ideale Versorgung zu empfehlen – und hier gibt es mittlerweile seitens der Industrie vielfältige Möglichkeiten zu Brillengläsern und Kontaktlinsen. Aber auch Training wäre eine Option. Vor allem sollten wir Augenoptikerinnen und Optometristen aber mehr zu den Ursachen der Symptome bei Tätigkeiten an Bildschirmen und Displays beraten und mit dem Kunden eine Strategie erarbeiten, wo Änderungsbedarf besteht und wo der Kunde bereit ist, etwas zu ändern, um ins Handeln zu kommen. Im Buch haben wir dafür verschiedene Aspekte beschrieben, die man in einem Beratungsgespräch ansprechen kann. Wir sind die Berufsgruppe, die das hervorragend machen kann, weil wir das Sehen unserer Kunden kennen und durch eine zielgerichtete Anamnese auch die Umfeldbedingungen.
In Ihrem Ratgeber sind auch Empfehlungen über Arbeitsplatzgläser und Blaulichtfilter zu lesen. Was ist der größte Irrtum, den Augenoptikerinnen bzw. Kunden in Bezug auf das Sehen am Arbeitsplatz haben?
Ich würde sagen, dass viele Augenoptiker und Optometristinnen davon ausgehen, dass die Brillen und Kontaktlinsen so konzipiert sind, dass das Optimum für gutes Sehen bei digitalen Aktivitäten erreicht ist und man zusätzlich nichts machen braucht. Aber so einfach ist es nicht. Die Versorgungen sind eine Unterstützung, aber sie sind keinesfalls so zu verstehen, dass man zum Beispiel mit einem Arbeitsplatzglas 24 Stunden „gesund“ am Bildschirm sitzen kann und keine Beschwerden bekommt.
Oft kommen Kundeninnen in das Augenoptikgeschäft, die Probleme am Arbeitsplatz vor dem Bildschirm haben. Hier scheint es noch viel Aufklärungsbedarf zu geben. Welche Kompetenzen haben Augenoptikerinnen hier zu einer guten Lösung zu verhelfen? Wer hilft, wenn man nicht weiß, welcher Lese-/Bildschirmabstand der richtige ist?
Genau das muss die Augenoptik/Optometrie für sich erkennen. Wir haben die Kompetenz dazu. Eine zielführende Anamnese, eine adäquate Visusbestimmung in Ferne und Nähe sowie die Bestimmung einer gegebenenfalls vorliegenden Fehlsichtigkeit. Und zu Tätigkeiten an Bildschirmen und Display gehört außerdem auch eine ausführliche Binokularprüfung. Wer zu dem Thema zu wenig weiß, der kann das Taschenbuch als Leitfaden nutzen, sowohl für die Untersuchung als auch für die Beratung. Alternativ gibt es mittlerweile auch einige Fortbildungen und Seminare zu diesem Thema. Dieses Wissen und deren praktische Umsetzung hilft uns in unserer täglichen Arbeit, Menschen mit Tätigkeiten an Bildschirmen und Displays zu unterstützen. Und das ist ein großes Dienstleistungspotential, dass es für die Augenoptik/Optometrie zu nutzen gilt.
Gibt es Beschwerden, die eindeutig auf zu viel Bildschirmzeit zurückzuführen sind (Stichwort Office Eye)? Was können Augenoptiker hier empfehlen?
Der Symptomkomplex Trockenes Auge wird mittlerweile auch im Kontext Bildschirmarbeit verwendet. Und die typische Beschreibung ist unter „digitale eye strain“ zu finden. Empfehlung wären zum Beispiel regelmäßige Pausen, um mit den Augen weiter weg zu schauen oder zu blinzeln. Es sind häufig kleine Aspekte, die in den Alltag eingebaut werden müssen, um nachhaltig zu Veränderungen zu führen.
Gibt es eine Möglichkeit, Fehlhaltungen zu erkennen? Gerade bezüglich der verschiedenen Zonen einer Gleitsicht-/Arbeitsplatzbrille? Manchmal sind es ja sogenannte ‚habits‘, die Probleme nicht sofort offensichtlich machen. Zum Beispiel, wenn der Kunde die Brille bevorzugt viel zu weit vorne auf der Nase trägt und dann die Durchblickspunkte nicht mehr passen. Oder wenn der Kunde den Kopf leicht schräg hält. Hat man da als Augenoptiker Möglichkeiten zu helfen oder muss da der Orthopäde ran?
Ein interdisziplinäres Netzwerk ist natürlich bei der Betreuung von Kunden mit Tätigkeiten an Bildschirmen und Displays sinnvoll. Aber man kann als Augenoptiker auch von diesen Zusammenhängen wissen und entsprechend beraten. Und Fehlhaltungen kann jeder erkennen. Zum Beispiel: Typischerweise geht eine Konvergenzinsuffizienz (Nahexophorie) häufig mit einem kurzen Leseabstand und Kopfschiefhaltung einher.
Viele Berufe, der des Augenoptikers gehört nur bedingt dazu, werden inzwischen am Bildschirm ausgeführt. Wie kann man sich selbst daran erinnern, Pausen einzulegen?
Timer einstellen, einen Aufkleber an den Bildschirm machen oder den Bildschirm alle 20 Minuten mittels entsprechender Soft- oder Hardware schwarz werden lassen.
Was sind Ihre Lieblingsübungen aus Ihrem Buch? Wie viel Zeit sollte ich mir überhaupt für Pausen zwischen der Bildschirmarbeitszeit täglich einplanen?
Wir beschreiben im Buch Strategien, um entspannter durch den digitalen Alltag zu kommen. Darüber hinaus haben wir Übungen kurz erklärt, die man in einer kleinen Pause machen kann. Es sind viele Übungen, damit man mal wechseln kann und so kann jeder für sich nach Alternativen suchen. Vielleicht hat man dann auch eine Lieblingsübung – ich glaube allerdings, das diese individuell verschieden ist (und darin begründet liegt, weil diese Übung vielleicht am effektivsten ist oder die meiste Entspannung in dem Moment bringt.) Und wenn man das selbst erfahren hat, dann macht man die Übung vielleicht auch öfter. Alle Übungen sind Anregungen, mehr Bewegung in den Alltag einzubauen. Und das muss nicht nur auf Arbeit sein. Das kann auch am Abend sein, nachdem man in Social Media unterwegs war - einfach nochmal eine Entspannungsübung machen und dann entspannt ins Bett gehen. Es gibt also keine vorgegebene Anzahl an Übungen, die täglich zu machen sind und auch keine vorgegeben Zeit. Es muss für den Einzelnen passen. Jede Bewegung hilft.
Wie schätzen Sie einen ganzheitlichen Ansatz in der Augenoptik für die Zukunft ein? Hängt der Bewegungsapparat mit dem Sehen stark zusammen?
Besser spricht man nicht vom Bewegungsapparat, sondern vom Bewegungssystem. Denn das ist nichts Statisches und leider auch nicht so einfach wie eine kaputte Maschine durch einen Austausch von Teilen zu reparieren. Ich persönlich sehe die Zukunft der Augenoptik/Optometrie interdisziplinär. Nur wenn man über die anderen Bereiche Bescheid weiß, kann man sein Denken und Handeln danach ausrichten. Mittlerweile gibt es vielfältige Beweise für anatomisch und funktionelle Zusammenhänge zwischen Sehen und Haltung, aber auch zwischen anderen Teilsystemen, zum Beispiel zwischen Aufmerksamkeitsleistung und Sehen.
Was ist Ihr abschließender Rat an Augenoptikerinnen mit den erweiterten Herausforderungen an das Sehen in der Nähe und vor Bildschirmen umzugehen?
Wir leben nun mal in der digitalen Welt. Wir können an Fehlsichtigkeiten nicht mehr so rangehen wie es die klassische Augenoptik Jahrzehnte lang gemacht hat. Das visuelle System ist nicht nur eine Kamera, wo man, wenn das Bild unscharf ist, einfach eine Linse davorsetzt. Das visuelle System ist ein Teilsystem im Gesamtsystem Mensch. Es ist vielfältig vernetzt und es entstehen Wechselwirkungen. Sich mit diesen zu beschäftigen, ist der Anfang für die Zukunft.
Das Gespräch führte Nicole Bengeser
Entspannt am Smartphone, Tablet und PC für Erwachsene
2., stark überarbeitete und umfassend erweiterte Auflage
132 Seiten
19,90 Euro
ISBN: 978-3-942873-61-1
Dr. Michaela Friedrich und Prof. Dr. Stephan Degle verfügen über langjährige Praxiserfahrung in der Untersuchung, Beratung und Versorgung für entspanntes Sehen und Arbeiten bei Tätigkeiten an Bildschirmen und Displays mit interdisziplinärer Betrachtung, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Sie sind unter anderem im Bereich „Digitale Medien“ seit vielen Jahren an der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena im Fachgebiet „Augenoptik/Optometrie/Ophthalmotechnologie/Vision Science“ in Lehre und Forschung tätig. Im DOZ Verlag erschienene Bücher von Degle und Friedrich sind: „Interdisziplinäre Optometrie“, „Entspannt am Smartphone, Tablet und PC für Kinder“ sowie die Begleitbroschüre für Kinder: „Max zeigt und erklärt Dir, wie Du mit Handy, Tablet und PC entspannt umgehen kannst“.