Interview mit Laure Pichereau

CEO von SiView: „Es wird immer einen Bedarf an Experten geben“

Laure Pichereau ist seit über 20 Jahren in der Optikbranche, Mitbegründerin und CEO von SiView – das erste „Refraktionsgerät“, das ausschließlich aus einer Verbindungs- und Kontrollbox besteht. Die Künstliche Intelligez (KI) wird in diesem Fall also einfach an das bestehende Refraktionsgerät angedockt. Wie es zur Entwicklung der KI kam und welche Pläne die Französin für die Zukunft mit SiView hat, verriet sie der DOZ im Interview.
Laure Picherau während einer Refraktion
© SiView

Erstveröffentlichung in der DOZ 06|23.

DOZ: Frau Pichereau, Sie sind Mitgründerin des Unternehmens SiView. Aus welchem Bereich kommen Sie ursprünglich?
Laure Pichereau: Ich habe einen M.Sc. in Physiologischer Optik, Kontaktlinsenoptik und Optometrie von einer renommierten Institution. Mit über 20 Jahren Erfahrung in der Optikbranche hatte ich das Privileg, an verschiedenen Aspekten der Industrie zu arbeiten. So kam es, dass ich 2013 an den ersten  Algorithmen für SiView arbeitete. Dies veranlasste mich schließlich, das Unternehmen mitzugründen und die Rolle des CEO zu übernehmen.

Wie kam es zu der Idee und der späteren Gründung von SiView?
Die Idee entstand 2013, als mich die Frage beschäftigte, wie man den subjektiven Refraktionsprozess modellieren könnte. Diese anfängliche Neugier brachte mich dazu, tiefer in das Thema einzutauchen und verschiedene Ansätze zu erforschen, um eine Lösung zu finden. Ziel war es, etwas zu entwickeln, das nicht nur stabil und anpassungsfähig war, sondern auch evolutiv und vor allem intelligent. Diese Reise gipfelte schließlich in der Gründung von SiView.

Wie lange dauerte es, die KI-gestützte Refraktionseinheit zu entwickeln?
Die Entwicklung unserer KI-gestützten Refraktionslösung umfasste zwei Hauptkomponenten: den Algorithmus – die KI – und die SiView-Box – eine universelle Box zur Steuerung vorhandener Geräte. Es gibt keine Refraktionseinheit an sich, sondern eine Kombination dieser Elemente, die unsere Lösung einzigartig macht. Die Entwicklung des ersten Algorithmus dauerte drei Jahre und in drei weiteren Jahren wurde die SiView-Box von einem Team aus Elektroingenieuren entwickelt. Der erste Prototyp wurde im Februar 2018 eingeführt.   

Gab es Hürden oder Herausforderungen bei der Entwicklung?
In der Tat gab es während der Entwicklung einige Herausforderungen, wie es bei einem Projekt, das von Grund auf neu entwickelt wird, häufig der Fall ist. So hatten wir wie viele Start-ups mit Personalherausforderungen zu kämpfen, um das richtige Team zusammenzustellen. Darüber hinaus war die Serie-A-Finanzierung, also die erste Finanzierungsrunde nach der Start-up-Phase, ein erschöpfender Marathon. Genauso wie die Tage vor der ersten kommerziellen Vorstellung, an denen alle unermüdlich gearbeitet haben, um sicherzugehen, dass alles für den Einstand bereit war. 

Wie ist die Situation in Frankreich, um eine KI auf den Markt zu bringen?
In Bezug auf die KI-Entwicklung und -Implementierung hat Frankreich eine positive Haltung. Die französische Regierung hat erhebliche Investitionen in KI-Forschung und -Entwicklung getätigt, um das Land zu einem führenden Akteur im Bereich der KI zu machen. Daher kann die Einführung einer KI-Lösung in Frankreich in diesem Sinne einfacher sein, solange sie die regulatorischen Anforderungen erfüllt und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gesundheitsfachleuten unterstützt.  

Eine Richtung, "die sich von der aller anderen auf dem Markt unterscheidet"

Worin sehen Sie die Grundlage für den Erfolg von SiView?
Der Erfolg von SiView basiert auf drei Grundpfeilern: einem großartigen Team, harter Arbeit und der Entscheidung, eine Richtung einzuschlagen, die sich von der aller anderen auf dem Markt unterscheidet. Wir haben von Anfang an die Entscheidung getroffen, uns auf die Entwicklung eines leistungsstarken Algorithmus mit KI zu konzentrieren, während unsere Konkurrenten auf Hardware-Innovationen mit viel leichterer Software setzten. SiView bietet mit unserer Universalbox eine Ad-hoc-Lösung für bestehende Geräte. Indem wir ein Abonnementmodell anbieten, ermöglichen wir unseren Kunden, ständig von den neuesten Innovationen und Verbesserungen zu profitieren, so dass sie immer über die aktuellste Technologie verfügen. 

Welche Rolle spielt die KI bei der Messung, was ist ihre Aufgabe?
Die KI spielt eine entscheidende Rolle im gesamten Messprozess, angefangen bei der Anamnese. Jede Frage, die gestellt wird, und jede Antwort, die der Patient gibt, wirkt sich auf den Algorithmus und den Bericht aus, der am Ende der Augenuntersuchung erstellt wird. Durch die Verwendung einer Matrix von über 500 Patientenprofilen und dem „Markieren“ jeder Antwort des Patienten kann die KI einen anderen Weg wählen, basierend auf der Antwort des Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt, seinen früheren Antworten, Informationen zur Krankengeschichte und seiner Position innerhalb der Matrix.

Das bedeutet, dass jeder Patient sozusagen seinen eigenen individuellen Weg durch den Algorithmus hat?
Genau. Wir sind dann in der Lage, diesen Weg präzise zu analysieren, so dass wir für jeden Patienten einen umfassenden und vollständig angepassten Bericht mit maßgeschneiderten Ratschlägen, Warnungen und anderen relevanten Informationen erstellen können. Die Hauptaufgabe der KI besteht darin, den Refraktionsprozess an die individuellen Bedürfnisse jedes Patienten anzupassen und so eine personalisierte und genaue Augenuntersuchung zu gewährleisten, die die spezifische Vorgeschichte und die Reaktionen des Patienten während des gesamten Prozesses berücksichtigt. Dieses Maß an Individualisierung unterscheidet SiView von anderen Lösungen und ermöglicht es uns, ein wirklich intelligentes und nutzerzentriertes Erlebnis in der Augenheilkunde zu bieten.  

Ich habe das Gerät persönlich auf der Opti in München getestet und mir ist aufgefallen, dass die Nebelzeit sehr kurz ist. Sehen Sie bei jüngeren Menschen, die noch sehr gut akkommodieren können, die Gefahr einer Fehlrefraktion?
Wir haben mehrere Kontrollschleifen implementiert, um sicherzustellen, dass die Testperson während der Untersuchung nicht akkommodiert. Und falls doch, können wir anfängliche Ungenauigkeiten korrigieren, um die optimale Korrektion zu erreichen. Außerdem wenden wir bei jüngeren Probanden, also Kindern und Jugendlichen, systematisch eine Vernebelungsmethode an, um das Risiko einer Fehlrefraktion zu minimieren.

SiView Box

Die Verbindungsund Kontrollbox von SiView, die an die Refraktionseinheit angeschlossen werden kann.

© SiView

Wer bedient das Gerät oder für wen ist es gedacht? Die ausgebildeten Augenoptikerinnen oder eher die Fachverkäufer?
Aus regulatorischer Sicht darf nur eine Person die Untersuchung durchführen, die dafür qualifiziert ist, das ist unsere Empfehlung. SiView wurde entwickelt, um die Fachleute bei ihren täglichen Aufgaben zu unterstützen und genaue und effiziente Refraktionsmessungen zu gewährleisten. Zusätzlich soll es ihnen helfen, ihr Zeitmanagement zu optimieren.  

Was ist Ihr Ziel mit dem Produkt? Was erhoffen Sie sich davon für die Branche und Ihr Unternehmen?
Wir haben zwei Hauptziele mit SiView: Zum einen wollen wir die globale Referenz für die automatische Refraktion werden, um damit das Gerät zu sein, mit dem die meisten Augenuntersuchungen durchgeführt werden. Zusätzlich wollen wir das erste medizinische Gerät sein, das bedürftigen Bevölkerungsgruppen präzise und genaue Messungen ermöglicht, damit sie die richtige Brille bekommen. Eine der Hauptursachen für verpasste Bildungschancen in Entwicklungsländern ist unkorrigierte Fehlsichtigkeit.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Unsere Pläne für die Zukunft konzentrieren sich auf die ständige Weiterentwicklung unserer Produkte und die Expansion in neue Märkte. Um dies zu erreichen, haben wir unsere eigene Software für die Entwicklung optometrischer Algorithmen entwickelt, die Agilität und hohe Leistung gewährleistet. Einige der spannenden Entwicklungen, die wir geplant haben, sind neue Funktionen, wie zum Beispiel die Einführung eines binokularen Moduls. Des Weiteren wollen wir in die USA expandieren, da wir jetzt die FDA-Zulassung haben, zusätzlich planen wir in den asiatischen Markt einzusteigen. Wir evaluieren ständig neue Märkte und Möglichkeiten, um die Vorteile der KI-gestützten Refraktionstechnologie von SiView mehr Menschen weltweit zugänglich zu machen. Durch kontinuierliche Innovationen und die Ausweitung unserer Reichweite wollen wir die Vorteile der KI-gestützten Refraktionstechnologie von SiView einem breiteren Publikum zugänglich machen und die Augenheilkunde auf globaler Ebene revolutionieren.

Glauben Sie, dass das Gerät refraktive Schulungen irgendwann überflüssig machen wird?
Nein, wir glauben, dass refraktive Schulungen aufgrund der Vielfalt des menschlichen Sehvermögens und der individuellen Bedürfnisse immer notwendig bleiben werden. Auch wenn SiView 90 Prozent der Fälle bearbeiten kann – was deutlich mehr ist als bei den Wettbewerbern –, wird es immer einen Bedarf an Experten geben, die komplexe Fälle bearbeiten und diejenigen überprüfen, bei denen SiView Anomalien festgestellt hat.

Trotzdem kommt einem angesichts der aktuellen Diskussion um Chat GPT auch in Ihrem Fall der Gedanke, dass KI menschliche Arbeitskraft ersetzen könnte …
SiView ist, ähnlich wie Chat GPT, ein Werkzeug, das Fachleute unterstützen und nicht ersetzen soll. Um ein solches Tool effektiv zu nutzen, muss man seine Fähigkeiten und Grenzen kennen. Indem SiView sich um einfachere Aufgaben kümmert, können sich die Experten auf höherwertige Aufgaben  konzentrieren, die ihr Fachwissen und ihre Erfahrung erfordern. 

 

Wir müssen darauf achten, dass technologischer Fortschritt und Innovation nicht zu Selbstzufriedenheit führen. Stattdessen sollten uns diese Fortschritte dazu anspornen, unsere Rolle als Experten noch besser auszufüllen, da man sich zunehmend auf uns verlassen wird, wenn es um Aufgaben mit hohem Mehrwert geht.