Gleitsichtglas Teil 2: Kompromiss, aber nicht kompromisslos!

Grafik mit Auge
Behalten Sie den Durchblick beim Gleitsichtglas!
© Andrea Sedlak

Welche Veränderungen wird ein Kunde mit seiner zukünftigen Brille in seiner Wahrnehmung erfahren? Und: Sind ihm diese auch zuzumuten? Das Gleitsichtglas ist der Umsatztreiber in der Augenoptik. Die Brillenglashersteller bieten den Augenoptikern in regelmäßigen Abständen immer modernere Gleitsichtglas-Typen an. Aber auch ohne diese neuen Technologien, mit deren Möglichkeiten zur Individualisierung des Brillenglases auf das jeweilige Auge, muss ein Augenoptiker am Ball bleiben, um den Durchblick bei der „Gleitsicht“ zu behalten. Diese dreiteilige Artikelserie geht auf die stetig anwachsenden Para­meter und ihre Zusammenhänge bezüglich des Tragekomforts und des subjektiven Trageempfindens ein.

Abbildung 1: Die Sehstärke in Abhängigkeit der Netzhautbereiche
Abb. 1: Die Sehstärke in Abhängigkeit der
Netzhautbereiche

Das Leben eines Gleitsichtglasträgers besteht aus Veränderungen. Einerseits sind es seine eigenen Anforderungen, die sich aus Beruf, Freizeit oder neuen Sehanforderungen ergeben. Andererseits zählen aber auch physiologische Gegebenheiten wie die fortschreitende Presbyopie oder motorische Veränderungen dazu. Aus diesen „Voraussetzungen des Alltags“ des Kunden und den „messbaren Daten“ müssen  Augenoptiker bei der Anpassung einer neuen Brille eine Einschätzung abgeben: Welche Veränderungen wird der Kunde mit seiner zukünftigen Brille in seiner Wahrnehmung erfahren? Und: Sind ihm diese auch zuzumuten? Kein einfaches Unterfangen. Umso wichtiger wird das persönliche Gespräch mit dem Träger; von Mensch zu Mensch muss der Augenoptiker nicht nur die Wünsche und Vorstellungen seines Kunden erfahren, sondern auch seine bis dato erlebten „Seh-Hürden“.

Ein ausgeprägtes zentrales Sehen ist die Grundvoraussetzung bei der Anpassung eines jeden Gleitsichtglases. Für eine gute Raumwahrnehmung ist vor allem die indirekte Sicht notwendig. Auch wenn die Sehschärfe in der Peripherie einen deutlichen Visusabfall erfährt (Abb. 1), ermöglicht sie uns die freie Bewegung und Orientierung. Auch reagieren wir in diesen Bereichen ganz sensibel auf Störfaktoren wie zum Beispiel die bekannten Abbildungsfehler in den Randbereichen der Gleitsichtgläser. Beim Blick auf Abbildung 1 könnte leicht der Eindruck entstehen, dass die vorhandenen Abbildungsfehler eines Gleitsichtglases eine weit geringere Rolle spielen, wenn man in den peripheren Netzhautbereichen gerade mal einen Visus von 0,25 oder weniger erreicht. Doch es ist oft festzustellen, dass sich ein  Refraktionsfehler gravierend auf die Raumwahrnehmung auswirkt – selbst wenn er nur eine Viertel Dioptrie beträgt.

Doch welche refraktiven Veränderungen in der Peripherie eines Gleitsichtglases muss ein Kunde verkraften, wenn wir die Addition erhöhen oder das Design des Glases verändern? Eine einfache objektive Antwort auf diese Frage zu bekommen, ist gar nicht so leicht, kann aber in unterschiedlichster Fachliteratur gefunden werden. Zusammengefasst gesagt, konzentrieren sich die Autoren auf zwei grundlegende Abbildungsfehler: das Refraktionsdefizit und den maximalen Astigmatismus, dem auch in diesem Artikel die  Aufmerksamkeit gewidmet ist.

Verschiedene Ansichten zur richtigen Addition

Über die Bestimmung der für den Träger richtigen Addition gibt es sehr verschiedene Ansichten. Gerade in den Anfangszeiten als Refraktionist dürften die meisten Fachleute so ihre Schwierigkeiten haben, zwischen Duan’scher Kurve, den Sehanforderungen des Kunden und der Erhaltung seiner Restakkommodation einen guten Mittelweg zu finden. Erst das Bewusstsein, in welchem Ausmaß sich der maximale Astigmatismus bei verschiedenen Additionen verhält, leitet oft ein Umdenken ein.
Bei einer Addition von 1,5 Dioptrien dürfen Sie mit rund 1,5 Dioptrien maximalen Astigmatismus rechnen, wobei dieser Wert natürlich abhängig ist vom Design und von der Progressionslänge. Es ist allerdings auch eine Tatsache, dass sich der maximale Astigmatismus um etwa denselben Betrag erhöhen wird, wenn Sie die Addition um 0,5 Dioptrien anheben. (Abb. 2).

Ein Gleitsichtglasträger einer mittleren Progressionslänge mit Addition 2,5 Dioptrien erreicht sehr schnell einen maximalen Astigmatismus von 2,5 Dioptrien oder mehr, die er in seiner Wahrnehmung kompensieren muss. Neuartige Designs mit speziellen Berechnungsalgorithmen machen es möglich, die physiologische Wahrnehmung hier positiv zu unterstützen, jedoch kommen wir um den „Satz von Minkwitz“ und etliche andere physikalische Gegebenheiten nicht herum. Eine Erhöhung der Addition bringt Änderungen mit sich – bis dahingehend, dass Zwischenbereiche merklich schmaler werden. Diese Tatsache erklärt auch, warum es so wichtig ist, schon Jungpresbyope auf das Thema Gleitsichtglas anzusprechen, damit sie sich damit auseinandersetzen. Und generell zeigt das auch, warum zu große Sprünge in der Addition zu vermeiden sind.

Satz von Minkwitz: Sind alle Punkte der Scheitel­linie einer symmetrischen, brechen­den Fläche Nabelpunkte, so ändert sich der Flächenastigmatismus in Richtung senkrecht zur Scheitellinie doppelt so stark wie der Betrag der Änderung der mittleren Flächenbrechkraft längs der Scheitellinie. Aus dem Wörterbuch der Optometrie von Helmut Goersch, erschienen im DOZ-Verlag

Um dem maximalen Astigmatismus bei höheren Additionen entgegenzuwirken, ist es nicht ganz unüblich, das Design zu ändern. So findet man am Markt den Ratschlag, den Jungpresbyopen mit einem eher „harten“ Design zu versorgen, um im fortgeschrittenen Presbyopiealter dann das Design in Richtung „weich“ zu wählen. Damit gibt man dem Glas mehr Freiraum für die Abbildungsfehler und reduziert die maximalen Werte. Der Ansatz verspricht einiges, doch wann spricht man von einem harten oder weichen Design? Vielen von uns werden Bilder einfallen wie in Abbildung 3.

Aus heutiger Sicht beschreiben diese harten und weichen Designs eher Nutzungseigenschaften beziehungsweise Sehprofile. Ob ein Design für einen Träger hart oder weich wirkt, hängt von mehreren Parametern ab:

  • Progressionslänge,
  • Addition,
  • Additionsverlauf: Folgt das Gleitsichtglas eher einem linearen oder einem stark ansteigenden Additionsverlauf?
  • Design-Grundcharakteristik: Wird dem Gleitsichtglas viel Raum gegeben, um Abbildungsfehler zu verteilen oder werden bewusst andere Prioritäten gesetzt?
  • und natürlich die physiologische Wahrnehmung.

In der Fachliteratur wird ein Gleitsichtglas technisch als weich beschrieben, wenn der maximale unerwünschte Astigmatismus 15 Prozent unter der Addition liegt. Der maximale Astigmatismus eines harten Designs liegt 25 Prozent über der Addition (Abb. 4).

Abb. 2: Maximaler Astig­matismus bei unterschiedlichen Additionen
Abb. 3: Designeigenschaften eines harten und weichen Designs

Bei dieser Definition wird nicht auf die Designeigenschaft nach Sandkastenmodell eingegangen, wie in Abbildung 3 dargestellt, auch wenn diese natürlich in einem engen Zusammenhang stehen. Jedoch kann zum Beispiel ein vermeintlich weiches Design mit ungünstigen Para­metern (zum Beispiel eine sehr kurze Progressionslänge) in Kombination mit einer hohen Addition sehr schnell einen maximalen Astigmatismus erreichen, der dann klar in die Kategorie „hart“ einzuordnen ist.

Die Progressionslänge ist ein weiterer Faktor, der den Anteil an Abbildungsfehlern beeinflusst. Im Idealfall richtet sich dieser Wert ausschließlich nach den physiologischen Bedürfnissen des Brillenträgers. Die richtige Wahl ist dann getroffen, wenn der Brillenträger in den verschiedenen Sichtweiten seine natürliche Kopf- und Körperhaltung einnehmen kann. Beim erfahrenen Gleitsichtglasträger finden wir oft diese natürliche Körperhaltung nicht mehr vor, da dieser schon gelernt hat, sein Verhalten dem Glasdesign anzupassen. Jedoch gibt es viele Träger, die eine Änderung nicht so ohne weiteres hinnehmen, denn eine geänderte Progressionslänge verändert nicht nur den Anteil an Abbildungsfehlern, sie verändert auch den Wirkungsverlauf (hier nachzulesen). Der neue Wirkungsverlauf zwingt den Träger dann mitunter, seine Körperposition zu ändern, um wieder in der gewohnten Entfernung scharf zu sehen.

Antworten liefern die Prioritäten des Trägers

Zusammengefasst sind es die Parameter Designcharakteristik, Addition und Progressionslänge auf die Augenoptiker einen direkten Einfluss hinsichtlich des Themas „Abbildungsfehler“ nehmen können. Wenn Sie sich jetzt fragen, welchen Parameter sie am wenigsten ändern sollten, oder welcher Eigenschaft eine höhere Gewichtung gegeben werden sollte, dann ist die Antwort immer von den jeweiligen Gegebenheiten und Anforderungen abhängig – und allem voran von den Prioritäten des Trägers und seiner Wahrnehmung.

Bekannt ist, dass eine um 0,5 Dioptrien höhere Addition den Astigmatismus um rund den selben Wert ansteigen lässt. Hatte der Träger schon zuvor Probleme, sich an die geänderte Raumwahrnehmung einer Gleitsichtbrille zu gewöhnen, dann ist es empfehlenswert, zur rechten Zeit eine neue Brille anzustreben. Das sollte und kann dem zukünftigen Träger plausibel erklärt werden. Ein Additionssprung von 0,75 Dioptrien oder mehr ist für Gleitsichtglasträger oft nur schwer zu meistern. Ebenso verhält es sich mit „gut gemeinten Überadditionen“.

Abb. 4: Definition eines harten oder weichen Designs bezogen auf den maximalen Astigmatismus

Positive Änderungen bei höheren Additionen können dadurch erzielt werden, dass die Designcharakteristik – in der gewohnten Betrachtung „eher weich“ – abgeändert wird. Mittlerweile gibt es Hersteller am Markt, die dafür eine flexible Gestaltung in kleinen Schritten ermöglichen. Eine Design-Änderung setzt aber wiederum voraus, dass der Augenoptiker seinem Kunden gezielte Fragen nach dessen Sehanforderungen in der Ferne, beziehungsweise von unendlich bis rund 3,5 bis vier Meter, stellt. In dieser Entfernung wird ein Träger mit sehr gut ausgeprägter peripherer Sicht meist den ersten Anstieg der Abbildungsfehler wahrnehmen. Des Weiteren kann noch das Sehverhalten des Kunden im Zwischen- und Lesebereich eruiert werden, um eventuell an der „Stellschraube Progressionslänge“ zu drehen.

Es dürfte hilfreich sein, diese drei Eigenschaften wertneutral beim Kundengespräch abzufragen und vom zukünftigen Träger gewichten zu lassen. Entsprechend dieser Informationen können dann Änderungen vorgenommen werden, die zielführend sind. Jedoch dürfen nie die physikalischen und mathematischen Grenzen außer Acht gelassen werden.  

Andrea SedlakAutorin: Andrea Sedlak
Augenoptiker- und Kontaktlinsenmeisterin aus Österreich, Qualitätsmanagementbeauftragte (Alle Fotos und Grafiken: Andrea Sedlak)

 

Im dritten und letzten Teil dieser Serie schärfen wir in der kommenden Ausgabe der DOZ noch unseren Blick für die Nähe. Außer Inset, Leseentfernung und Messmethode geht Andrea Sedlak auch auf die Stärkenkontrolle der Addition ein und erklärt, warum Sie bei diesem Para­meter getrost alleine Ihrem Glashersteller vertrauen dürfen.