Gleitsichtglas Teil 3: „Aus der Nähe“ betrachtet
Das Gleitsichtglas ist der Umsatztreiber in der Augenoptik. Die Brillenglashersteller bieten den Augenoptikern in regelmäßigen Abständen immer modernere Gleitsichtglas-Typen an. Aber auch ohne diese neuen Technologien, mit deren Möglichkeiten zur Individualisierung des Brillenglases auf das jeweilige Auge, muss ein Augenoptiker am Ball bleiben, um den Durchblick bei der „Gleitsicht“ zu behalten. Diese dreiteilige Artikelserie geht auf die stetig anwachsenden Parameter und ihre Zusammenhänge bezüglich des Tragekomforts und des subjektiven Trageempfindens ein.
Was wäre das Gleitsichtglas ohne die Nahsicht, der die nachfolgenden Zeilen im Speziellen gewidmet sind. Wichtig ist dabei bereits unter anderem die Lage des Insets, die aus den persönlichen und fassungsspezifischen Parametern errechnet wird. Oder auch die Leseentfernung, deren Definition ein wesentlicher Bestandteil der Refraktion ist. Nicht alles lässt sich „scharf abbilden“ – vor allem wenn es darum geht, die Addition mit einem Scheitelbrechwertmesser nachzumessen …
Vielen von Ihnen ist sicher noch die bewährte Spiegelmethode ein Begriff: Mit ihrer Hilfe wird beurteilt, ob der Gleitsichtglasträger bei Nahsicht durch die Nahkreismarkierung schaut. Sie stellte eine sehr einfache Methode dar und ermöglichte es, das Konvergenzverhalten des Trägers in der Nähe zu beurteilen – wenn es auch manchmal Einbußen in der Detailtreue durch den großzügig gezeichneten Kreis oder ein unnatürliches Sitz verhalten gab. Heutzutage erfolgt die Nahkonvergenzmessung meist „App-gestützt“ und mit verschiedensten modernen Mess- und Zentrierwerkzeugen. Mit diesen werden, neben den fassungs- und anpassungsspezifischen Daten, der Leseabstand und der Inset unter Verwendung einer „wirkungslosen“ Brillenfassung ermittelt.
Durch die Messung der Nahkonvergenz ergeben sich einige interessante Hinweise: So ungleich Gesichtshälften und Pupillenabstände sind, so unterschiedlich ist auch das Konvergenzverhalten in der Nähe, die daraus gemessene Nah-PD und in weiterer Folge der Inset. So können sich signifikante Unterschiede von manchmal bis zu 1,5 Millimetern zwischen dem rechten und dem linken Auge ergeben. Im ersten Moment erschreckend. Betrachtet man den Träger jedoch im Detail, lassen sich in vielen Fällen deutliche Kopfschiefhaltungen in der Nähe erkennen oder aber das Leseobjekt wird bevorzugt in eine Richtung positioniert gehalten (Abb. 1). Beide Situationen sind üblich und dürfen, sofern sie dem natürlichen Verhalten des Trägers entsprechen, guten Gewissens zur Kenntnis genommen werden. Ebenso spielt eine unterschiedliche Fern-PD in das Ergebnis der Nah-PD hinein.
Addition und Leseabstand als Einheit betrachten
Für die vollständige Berechnung des Insets in der Produktion fehlt – abseits der fassungsspezifischen Parameter – noch die Berücksichtigung der prismatischen Wirkung der Brillengläser und der Leseabstand. Der Leseabstand und die situationsrelevant ermittelte Addition stehen unweigerlich in Zusammenhang und sind durchaus als eine „Einheit“ zu betrachten. Diese Werte sollten – als kleine, aber wichtige Randnotiz – schon während der Refraktionsbestimmung vermerkt werden. Jede nachträgliche Ermittlung des Leseabstands kann die Situation nicht nachstellen, die während der Refraktion die Basis für die ermittelte Addition gebildet hat; unabhängig davon, wie „intelligent“ das später verwendete Messtool ist. Das mag mitunter eine kleine Ablaufveränderung vom gewohnten Beratungsprozess mit sich bringen, wird aber dafür mit einem deutlich erlebbaren Mehrwert für den zukünftigen Gleitsichtglasträger belohnt.
Zudem ist die prismatische Wirkung der Brillengläser ein wichtiger Teil der Inset-Berechnung – ihre Auswirkung ist bei weitem nicht zu unterschätzen. So kann der Inset eines Gleitsichtglases ohne Einberechnung der prismatischen Wirkung der Brillengläser leicht um die 2,5 Millimeter betragen. Bei einem Myopen ändert sich bei gleichen individuellen Parametern aber unter Berücksichtigung der Refraktion der Inset schnell auf 2,1 Millimeter, bei einem Hyperopen sogar auf 2,9 Millimeter. Somit ergibt sich für jede Brillenglasstärke, unter Berücksichtigung aller Parameter, nun ein üblicherweise in 0,1-Millimeter-Schritten individuell berechneter Inset (Abb. 2).
Es gibt Annäherungsformeln, um den Inset selber auszurechnen und um herauszufinden, welch interessanten Einfluss die einzelnen Parameter tatsächlich haben. Mit einer vereinfachten Berechnunglässt sich sehr gut veranschaulichen, in welchem Ausmaß die Refraktion, PD, Leseentfernung und so weiter den Inset verändern (Tabelle 1).
In welcher Position wird das Tablet gehalten?
Bestellen eines gemessenen Insets: Ja oder Nein? Um diese Frage kommt man beinahe nicht herum. Unzählige Parameter werden oft nicht nur „ausgemessen“, sondern in besonderem Sinne auch „ver“messen. Bei der Messung der Nahkonvergenz spielen – einmal abgesehen von der bereits besprochenen Refraktion und dem Leseabstand – noch einige weitere Faktoren eine bedeutende Rolle. Alleine die Frage „Wird das Tablet bei der Nahkonvergenzmessung wirklich in jener, der praktischen Anwendung entsprechenden, natürlichen Position gehalten?“ lässt manche Diskussionen zu. In Fachkreisen wird häufig das Thema des „vertikalen Blickwinkels“ und dessen Einfluss auf den Konvergenzwinkel aufgegriffen. Eine detailliertere Ausführung hierzu würde wahrscheinlich ein eigenes Buch füllen.
Einen bislang zufriedenen Gleitsichtglaskunden, dessen vermessene Nahkonvergenz keinen direkten Bestellparameter dargestellt hat, sollte weiterhin mit den gleichen, bereits erfolgreichen Daten bedient werden. In seiner Situation ist der produktionsberechnete Inset basierend anhand der PD, der Addition, der Leseentfernung und so weiter genau der Richtige. Ein größeres konvergentes Ungleichgewicht ist entweder nicht vorhanden oder bewegt sich in einem vom Träger gut zu kompensierenden Rahmen.
Die Nahkonvergenzmessung kommt besonders im Troubleshooting – vor allem mit Schwerpunkt Zwischen- und Lesebereich – so richtig zum Zug. Beklagt ein Gleitsichtglasträger, dass er für mittlere Distanzen und den Nahbereich den Kopf in der horizontalen Ebene verändern muss, um gut zu „sehen“, so ist das ein Indiz dafür, dass sich seine Hauptsehlinie nicht mit dem Progressionskanal deckt. In solchen Fällen ist es sinnvoll, den Inset variabel zu bestellen. Als Grundwert dient dabei der Inset seiner aktuellen Gleitsichtbrille. Die Angaben des produzierten Insets findet man bei vielen Herstellern auf den Glastüten oder in den Lieferpapieren. Eine Anpassung des Insets sollte zunächst in kleinen Schritten (0,50 mm) erfolgen, um nicht gleich eine Umkehrwirkung zu erreichen.
Additionskontrolle in der Nähe schwieriger
Zum Troubleshooting zählt auch die Kontrolle der Grundparameter eines Gleitsichtglases. Der Fernbezugspunkt 1 lässt sich noch relativ einfach nachmessen: Der Fernbereich, entsprechend groß und stabil, stellt in den meisten Fällen kein Problem bei der Kontrolle dar, und selbst der einfachste Scheitelbrechwertmesser bringt sehr gut reproduzierbare Ergebnisse. Die Kontrolle der Addition in der Nähe gestaltet sich viel schwieriger und kann in jedem Selbsttest versucht werden (Tabelle 2):
Als erstes stellt sich hier die Frage: „Wie genau können nun Inset 1,7 und 2,0 Millimeter bei einer Progressionslänge von 16 Millimetern angezeichnet werden und welche Messmethode möchte man anwenden?“ Auf vielen Glastüten findet man zweckmäßigerweise nur nochdie Addition als kombinierten Wert. Es vereinfacht zwar vor allem die Kontrolle im „Gleitsichtglasmodus“, fällt aber zum Nachteil der Messgenauigkeit aus.
Ist der Inset einmal am Gleitsichtglas richtig angezeichnet, beginnt die Präzisionsarbeit der Vermessung: Der angezeichnete Nahmesspunkt ist mit dem Strahlengang des Scheitelbrechwertmessers in Einklang zu bringen. Trotz aller Herausforderungen der Messmethode ist es immer sinnvoll, einen Blick auf die Messwerte zu werfen. Das Messergebnis sollte zudem kritisch betrachtet werden, denn es hängt stark vom jeweilig verwendeten Scheitelbrechwertmesser ab. Im Zweifelsfall hilft noch ein Blick auf die Mikrogravur.
Freiformflächen erfordern aufwändige Kontrollen
Komplexe Freiformflächen erfordern in einer industriellen Prüfung entsprechend aufwändige Kontrollen, die anhand von „Mappings“ durchgeführt werden. Je nach Prüf- und Prozessmethode werden die Einzelflächen (konvex und konkav) beurteilt. Auch die Kombination beider Flächen wird einbezogen, um etwaige Überlagerungsfehler zu vermeiden. Stück für Stück, Parameter für Parameter werden diese Gläser penibel kontrolliert.
Die handelsüblichen Scheitelbrechwertmesser versuchen, den komplexen Freiformflächen gerecht zu werden. Zu bedenken ist aber immer noch der Einfluss der manuellen Manipulation – bei den heutigen Gleitsichtgläsern ist oft schon der Markierungspunkt des Glasschreibers zu dick, um den Nah-Messpunkt korrekt anzuzeichnen.
Moderne Gleitsichtgläser werden durch ihre immer größer werdende Individualität geprägt. Und auch das Auflösungsvermögen des menschlichen Auges erfährt eine zunehmende Veränderung. Eine Refraktion auf „nur“ noch eine Viertel-Dioptrie ist bald passé, denn das Auflösungsvermögen geht heute schon oft weit über einen Visus von 1,0 hinaus. Kindliche Augen werden heute durch verschiedene digitale Medien „anders“ beansprucht als noch vor wenigen Jahren – und sie werden dadurch auch „anders“ fehlsichtig. Diese Generation und auch der Wandel in Beruf und Freizeit werden uns sicher noch viele neue Entwicklungen an Gleitsichtgläsern und Vermessungsmethoden erleben lassen.
Autorin: Andrea Sedlak
Augenoptiker- und Kontaktlinsenmeisterin aus Österreich, Qualitätsmanagementbeauftragte (Alle Fotos und Grafiken: Andrea Sedlak)