Der hörakustische Praxisfall auf dem Weihnachtsmarkt

Leiser die Glocken nie klingen …

Die festliche Beschallung mit Weihnachtshits verbreitet auf dem Adventsmarkt nicht nur Glühweinstimmung, sondern kann auch eine Quelle des Störlärms darstellen, die das Sprachverstehen erschwert. Ein guter Hörakustiker kann jedoch das Verstehen in speziellen, zum Beispiel beruflichen Hörsituationen durch geschickt gestaltete Hörprogramme nachhaltig verbessern, wie dieses Fallbeispiel zeigt.
Praxisfall
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Erstveröffentlicht in der DOZ 12I24

Christine Mausbach betreibt zur Weihnachtszeit einen Lebkuchenstand am Dresdner Striezelmarkt (Foto oben). Im Sommer verkauft sie Süßigkeiten auf diversen Volksfesten. Insbesondere wenn die laute Musik des Kinderkarussells einsetzt oder die Glocken der Frauenkirche läuten, hat sie in letzter Zeit zunehmend Probleme, die Wünsche ihrer Kunden zu verstehen. Daher entschied sie sich zu einem Besuch bei ihrem HNO-Arzt, der neben Stimmgabelversuchen, einer otoskopischen Untersuchung und einem Sisi-Test zudem eine Ton- sowie eine Sprachaudiometrie durchführte. Er diagnostizierte aufgrund der Ergebnisse eine beidseitige mittlere Schallempfindungsschwerhörigkeit und stellte ein Rezept für zwei Hörgeräte aus (Abb. 1).

Praxisfall
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Abb. 1: HNO-Rezept für zwei Hörgeräte

Der Praxisfall

Für den Januar hat Christine Mausbach einen Termin bei Hörakustik Bäumlein (Name vom Autor geändert; Anm. d. Red.) bekommen. Bei der Anpassung wurde die für den Beruf besondere Bedeutung des Verstehens im Störschall thematisiert. Besonders problematisch ist die Tatsache, das Nutz- und Störschall nahezu aus der gleichen Richtung kommen. Neben der üblichen Audiometrie führte der Experte einen ACT-Test sowie einen Göttinger Satztest (GÖSA) im Störschall ohne Hörgeräte mit S0N0 durch.

Christine Mausbach weist beim GÖSA (siehe Abb. 2) im Störschall ohne Hörgerät eine Sprachverständlichkeitsschwelle von 4,2 dB auf. Im Vergleich zu Normalhörenden, die auch bei einem negativen SNR-Wert Sprache noch verstehen können, kann sie in geräuschvoller Umgebung Sprache erheblich schlechter verstehen. Dies steht in Einklang mit ihrem subjektiven Erleben auf dem Weihnachtsmarkt und unterstreicht die Notwendigkeit, die Situation „Sprache im Störschall“ bei der Hörsystemanpassung im Fokus zu behalten.

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Abb. 2: Ergebnisse des GÖSA mit S0N0 ohne Hörgerät. Dieser Test kann zum Vergleich mit einem getragenen Hörsystem herangezogen werden.

Der per Messungen errechnete ACT-Wert (Abb. 3) beträgt 7,9 dB nCL. Dies entspricht gemäß den normativen Daten einem mäßigen Kontrastverlust (7 - 10 dB nCL). Bei diesem Ergebnis wird empfohlen, die adaptiven Parameter der Störschallreduzierung auf ein mittleres Niveau einzustellen.

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Abb. 3: Die Auswertung des ACT-Tests ergibt eine Empfehlung, die adaptiven Parameter der Störschallreduzierung auf eine mittlere Stärke einzustellen.

Hörgeräteauswahl: Das Leben abbilden

Nach eingehender Beratung durch Hörakustiker Bäumlein wählte Christine Mausbach HdO-RIC-Geräte (Hinter dem Ohr / Reciever in the Channel = Hörer im Gehörgang) der mittleren Preisklasse aus. Die Kenndaten dieser Hörsysteme waren:

M-Hörer
Vak 40 dB
LAmax 120 dB

Mausbach bewegt sich in sehr unterschiedlichen Hörsituationen, deshalb sind mehrere Programme notwendig. Da sie technisch versiert ist, stellt für sie die Handhabung der Geräte und die Auswahl des richtigen Programms kein Problem dar. Der Hörakustiker richtete folgende Programme ein: Erstens ein Alltagsprogramm für Hausarbeiten in der Wohnung mit einer Impulsschallreduktion für Tätigkeiten in der Küche. Zweitens ein Arbeitsprogramm für den Verkaufsstand mit einer Fix-Direktionalen Richtwirkung. Durch Ausrichtung des Kopfs auf den jeweiligen Kunden werden Nutz- und Störschall gut voneinander getrennt. Und last but not least ein Programm für das allgemeine Verstehen in geräuschvoller Umgebung mit einer automatischen Mikrofonwahl.

Um einerseits die in diesem Fall auch beruflich wichtigen Störschall-Reduzierungsfeatures ohne Einschränkungen wirksam zu gestalten und andererseits eine störende Okklusion zu vermeiden, wurden okklusionsfreie Otoplastiken aus Titan angefertigt.

Nach sechs Wochen hat Christine Mausbach verschiedene Geräte zur Probe getragen. Sie entscheidet sich für das Gerät „Supremus Akku“ der Firma Ulhoff. Der Satztest mit getragenem Hörgerät in der Einstellung „Arbeitsprogramm“ ergibt eine Verbesserung des SNRs um 1,5 dB. Mit diesem Gerät kann sie jetzt ihre Kunden am Verkaufsstand auf dem Weihnachtsmarkt – auch bei Glockenläuten – viel besser verstehen und muss nur noch selten nachfragen. Sie fühlt sich mit den Hörsystemen viel sicherer.

Fazit

Das Verstehen in speziellen zum Beispiel beruflichen Hörsituationen kann durch geschickt gestaltete Hörprogramme nachhaltig verbessert werden. Zudem lohnt es sich für Hörakustiker, neue Hörakustiktests in das eigene Portfolio aufzunehmen, die die Hörsystemanpassung gezielt und zeitsparend unterstützen können.

Dipl.-Phys. Dipl.-Ing. Jens Ulrich
© privat

Autor: Dipl.-Phys. Dipl.-Ing. Jens Ulrich
ist Meister im Augenoptiker- und Elektrotechnikerhandwerk und beendete 2005 sein Physikstudium mit Schwerpunkt „Akustik“. Zusammen mit Prof. Dr. med. Eckhard Hoffmann hat er mehrere Fachbücher im DOZ-Verlag publiziert.

Hintergrundwissen: ACT-Test und Göttinger Satztest

Der Göttinger Satztest (GÖSA) nutzt als Sprachmaterial ganze sinnhafte Sätze, wie zum Beispiel „Das Haus hat keinen Garten.“ Vorteil ist, dass Sprachmaterial mit lebensnahen Inhalten eingesetzt wird, dies erhöht die Motivation der Kunden. Nachteil ist, dass eine gewisse deutsche Sprachkompetenz Grundvoraussetzung für den Einsatz des GÖSA ist. Bei der Präsentation von Sprache im Störschall mit S0N0 kommen sowohl das Signal S als auch der Störschall N direkt von vorne, die 0 bezeichnet jeweils die Gradzahl der Lautsprecherposition in Bezug auf den Probanden. Bei Normal hörenden wird ein Wert von circa -6 dB Sprachverständlichkeitsschwelle (SVS) erwartet, bei der 50 Prozent der Testworte verstanden werden. Das Störgeräusch weist dann einen um 6 dB höheren Pegel auf als das Sprachsignal.

Der ACT-Test (Audible Contrast Threshold), noch recht neu und von der Interacoustics Research Unit entwickelt, wird eingesetzt, um die Sprachverständlichkeit bei Störlärm vorherzusagen. Getestet wird das Erkennen von Modulationen bei einem Rauschsignal. Je geringer der ermittelte ACT-Wert (dargestellt in dB nCL), desto feinere Modulationsunterschiede kann der Proband wahrnehmen und umso besser ist das zu erwartende Sprachverständnis im Störlärm. Benötigt der Hörgeschädigte viel Hörkontrast, um die Unterschiede zwischen zwei Signalen zu erkennen, ist dies ein Hinweis, dass eine größere Unterstützung durch die adaptiven Features einer Störschallunterdrückung notwendig ist. Vorteilhaft ist, dass die Testung keine spezielle Sprachkompetenz voraussetzt und nur circa drei Minuten dauert.