Lens4you: Revolution im Kontaktlinsengeschäft?
Bjørn Gottenborg wollte nicht länger mit ansehen, wie das Potenzial der Kontaktlinse mit Füßen getreten wird. Ende 2022 eröffnete der Schweizer sein eigenes Kontaktlinsen-Institut im Luzerner Bahnhof mit einem bisher einzigartigen Konzept.
Eine große Schaufensterfront, weißes Licht, weiße Theke und die Regale voller Kontaktlinsenpackungen. Lens4you steht in türkisfarbener Leuchtschrift über der gläsernen Eingangstür. Viel war uns vor dem Besuch nicht bekannt. Klar war: Ein dem Foto nach zu urteilen junger Schweizer hat ein Kontaktlinseninstitut im Luzerner Bahnhof eröffnet. Dieses habe 365 Tage im Jahr geöffnet und zwar durchgehend bis in die späten Abendstunden. Verrückt: Wer will denn als gut ausgebildeter Augenoptiker beziehungsweise Meisterin unter solchen Bedingungen arbeiten? Noch dazu in Zeiten des Fachkräftemangels? Handelt es sich hierbei um ein Unternehmen, das ohne große Kompetenz aufs schnelle Geld aus ist? Bei dem man fix seine „Linse to go“ ordern kann? Ohne Kontrolle und fachliche Begleitung, quasi das neue analoge Online? Die Vorbehalte und Diskussionen in der Redaktion waren im Vorfeld hitzig, also musste man sich selbst ein Bild vor Ort machen. Inkognito.
365 Tage im Jahr geöffnet, bis in die späten Abendstunden
Lens4you wirbt damit, dass man ohne Termin und jederzeit eine Kontaktlinsenanpassung bekommen kann. Und zwar für jedes Kontaktlinsensystem, egal ob weich, formstabil oder gar eine speziellere Art der Kontaktlinsenversorgung. Während in Deutschland die reinen Kontaktlinseninstitute oft wochenlang ausgebucht sind, könne man hier quasi jederzeit und rund um die Uhr versorgt werden. Wie steht es also um die Qualität dieser Versorgung und die ständige Verfügbarkeit? Ich möchte mir an eben diesem „Donnschtig“ über das Online-Terminbuchungs-Tool einen Termin für 15 Uhr reservieren. Zunächst werde ich enttäuscht, über das Tool kann ich nur einen Tag im voraus Termine ausmachen, aber nicht am selben. Ich greife zum Telefon und eine freundliche und gut gelaunte Frauenstimme begrüßt mich. Ich bekomme meinen Anpasstermin ohne Probleme zu meiner Wunschuhrzeit.
Der Luzerner Bahnhof ist Dreh- und Angelpunkt für Reisende aus Deutschland, Italien, Frankreich und der Schweiz und wirtschaftlich ein ganz eigener Kosmos. Seit drei Monaten bietet das Kontaktlinseninstitut Lens4you dort 365 Tage im Jahr professionelle Beratung und Produkte an – mit und ohne Termin.
Kurz darauf sitze ich im Zug nach Luzern. Durch den Karneval ist es leer bei Lens4you. Bjørn, ein junger Schweizer, den ich gleich als Geschäftsführer erkenne, begrüßt mich per Du. Souverän und entgegenkommend beginnt er mit mir ein Gespräch über die Wünsche und Hintergründe meiner Kontaktlinsenversorgung. Mir ist schnell klar, dass ich hier nicht abgefertigt, sondern grundlegend beraten werde. Meine Augen werden eingehend refraktioniert. Ich werde nach meinem Lebensstil gefragt, ob ich Medikamente nehme (die den Tränenfilm beeinflussen könnten) und wie oft ich die Kontaktlinsen denn vorhabe zu tragen. Im Anschluss besieht Bjørn mit der Spaltlampe meine Augen. Jeden Schritt erklärt er mir, dass er den vorderen Augenabschnitt untersucht und den Tränenfilm analysiert. Zum Schluss misst er mit dem Keratographen meine Hornhaut. Ich weiß, dass meine Augen eigentlich keine direkte Versorgung zulassen. Normalerweise muss ein Geschäft, auch ein sehr gut sortierter Augenoptiker, solche Kontaktlinsen bestellen. Ich habe auf dem rechten Auge einen hohen Zylinder in schiefer Achsenlage. Nachdem wir weiter miteinander sprechen, über die Ausbildung in der Schweiz, die Herausforderung eines Geschäfts am Bahnhof und einiges mehr, fragt mich Bjørn, woher ich denn so viel weiß. Und ich sage es ihm. Wir müssen beide lachen. Bjørn nimmt es mir nicht übel und fühlt sich sogar etwas geehrt, dass wir ihn als DOZ besuchen. Ich möchte die Anpassung auf jeden Fall abschließen und zu meiner Überraschung sucht Bjørn die passenden Kontaktlinsen in meiner benötigten Stärke heraus. Es sind Eintageslinsen und er hat sie vorrätig. Mit Testlinsen und nach etwa 45 Minuten Voruntersuchung mache ich mich erst mal auf den Weg ins karnevaleske Luzern. Dass die Kontaktlinsen für meine Zwecke funktionieren, ist mir zu diesem Zeitpunkt bereits klar.
Die Eröffnung von Lens4you im Bahnhof Luzern. Das Pre-Opening war am Freitagabend, 30. September 2022, für geladene Gäste. Die Ladeneröffnung am nächsten Tag war dann ein Turbostart: Gottenborg erzählt, dass er erst um 17 Uhr Mittagspause machen konnte.
„Gespürt, dass alles nur mit halb so viel Liebe gemacht wird“
Schnell ist bei meinem Besuch auch klar, dass Bjørn sein Geschäft mit umfassendem Kontaktlinsen-Knowhow, Herzblut und einer genauen Vision betreibt. Diese Vision trug er schon viele Jahre mit sich herum, bevor er das Geschäft am Luzerner Bahnhof eröffnete. Bjørn Gottenborg ist kein Neuer in der Branche. Der 39-Jährige ist gelernter Augenoptiker und studierter Betriebsökonom FH mit Schwerpunkt Kommunikation und Marketing. Nach Stationen bei Johnson & Johnson und Safilens arbeitete Gottenborg acht Jahre bei CooperVision Schweiz als Key Account Manager. Hier verantwortete er Marketingkonzepte und tat alles dafür, dass sich Augenoptikbetriebe ebenfalls die Kontaktlinse auf die Fahne schreiben. Die kleine Sehhilfe sollte aus dem Schatten der Brille treten. Die gebetsmühlenartigen Wiederholungen über das Potenzial der Kontaktlinse, die man auf fast jeder relevanten Veranstaltung der Branche hört: Gottenborg war und ist einer dieser Fürsprecher. Doch egal wie viel Energie und Mühe investiert wurde und wie großartig die Kampagnen des Unternehmens auch aufgestellt waren, er hatte das Gefühl, dass bei den Augenoptikbetrieben die Kontaktlinse vor allem eines war: ein Kompromiss, den man einzugehen hatte, um als Augenoptikerin eben das volle Sortiment zu haben. „Ich habe immer wieder gespürt, dass alles nur mit halb so viel Liebe gemacht wird“. Das Hauptgeschäft blieb die Brille, die Kontaktlinse verharrte bei den meisten bei einem Anteil von maximal zehn Prozent. Gottenborg erzählt, dass er nach Kundenbesuchen oft im Auto saß und sich Gedanken darüber machte, mit wie viel Widerstand die Linse noch immer zu kämpfen hatte. Dabei war er sicher, dass das Kontaktlinsengeschäft – richtig angegangen – durch die Decke gehen müsste.
Das Kontaktlinseninstitut ist professionell ausgestattet. Jede Anpassung ist prinzipiell machbar, der Fokus liegt auf Eintages- und Monatssystemen.
„Lebe ich auf einem anderen Planeten, dass nur ich das erkenne?“
Gottenborg sah das Problem ganz klar in der Customer Journey. Diese sei vor allem durchzogen von Wartezeiten: Der Kunde müsse auf einen Termin warten, die Kontaktlinsen bestellt werden, es gibt einen Termin zur Nachkontrolle. Das dauere den heutigen Kunden oft zu lange, also bestellen viele online. Das bekannte Online-Problem: Es geht zwar vielleicht schneller, aber die Beratung fehlt. „Das hat mich dazu gebracht, eine Chance zu sehen“, sagt Gottenborg, „Ich dachte, lebe ich auf einem anderen Planeten, dass nur ich das erkenne? Ich habe also diesen Rucksack an Chancen gesehen und gesagt, wenn das jetzt niemand macht, dann packe ich das an.“ Eines Tages schrieb er also einen Businessplan, rechnete die ganze Sache durch, ließ alles noch mal von externen Experten checken und kündigte. Nicht, weil er seinen Job nicht mehr gerne gemacht hätte, im Gegenteil. „Ich habe meine Arbeit geliebt“, erzählt er. Aber er war sicher, dass mit der Kontaktlinse mehr möglich ist, als die meisten Augenoptikbetriebe wahrhaben wollen.
Und dieser Ansatz beruht auf wenigen, aber wesentlichen Säulen: einer 1-A-Lage, einem Kontaktlinsenlager, das mit vorrätigen 50.000 Kontaktlinsen seinesgleichen sucht, einer ganzjährigen und durchgehenden Verfügbarkeit von professionell geschultem Personal und das Ganze deutlich günstiger als der normale Retail-Handel. Das liege daran, dass er für seine Dienstleistungen angemessene Preise verlange, dass die Preise der Kontaktlinsen an die Online-Preise heranreichen und dass er hauptsächlich über Abo-Systeme arbeitet, einer Art Flatrate, die einmal im Jahr eine Kontrolle vorsieht und bei der die Kunden ihre Linsen rabattiert und versandkostenfrei nach Hause erhalten. Außerdem können sie bei Problemen an jedem Tag im Jahr zu Lens4you kommen und Hilfe erhalten. Nichtsdestotrotz mache er natürlich auch Gewinn über Menge und Marge. „Kunden mit Spezialgeschichten wie Sklerallinsen fühlen sich von diesem Konzept nicht angesprochen. Wir sind klar im Geschäft mit der breiten Masse verortet“, macht Gottenborg deutlich. Dennoch betreibt Lens4you bewusst keinen Onlineshop. „Ich möchte Retail-first und den Kunden im Geschäft haben. Ich bin fest überzeugt, dass die Kontaktlinse ein Convenience-Produkt ist“, sagt Gottenborg. Daher möchte er seinen Kundinnen und Kunden den Zugang zur Kontaktlinse so einfach wie möglich machen, ohne dass diese auf Fachkompetenz verzichten müssen oder das Bedürfnis haben, online zu bestellen. Diese Qualität wolle er auch bei seinen Produkten widerspiegeln. Lens4you arbeite immer mit Produkten, die technisch auf dem neuesten Stand sind. Er präferiere keine Marke, sondern habe sämtliche Firmen im Sortiment, ebenso formstabile Linsen. „Wir sind kein CooperVision-Concept-Store, wie manch böse Zunge behaupten könnte“, sagt er. „Ich habe natürlich meine Strategie, aber trotzdem alles im Sortiment.“
Für viele der Linsenretter
„Das Konzept greift bis ganz hinten durch.“ Dass sein Geschäft an einen Bahnhof muss, war Bjørn Gottenborg von Beginn an klar. Es sollte eine stark frequentierte Stelle sein, aber eine Fußgängerzone in einem Viertel kam nicht in Frage. „Ein Bahnhof ist ein ganz eigener Kosmos, eine Stadt in der Stadt, mit eigenen Regeln“, sagt er. Das bezieht sich vor allem natürlich auf die Arbeitszeit und -dauer. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sechs sind es inzwischen, wissen das. So gibt es zum Beispiel keinen Feiertagszuschuss. Und hier lag auch die größte Herausforderung: Personal zu finden, das gut ausgebildet ist und in diesem Konzept arbeiten will. Um Mitarbeitende zu finden, setzt Bjørn Gottenborg noch immer alle Hebel in Bewegung. Vor allem die Begeisterung des Chefs überzeugt die Angestellten für das neue Konzept. „Die leben das genauso wie ich“, erklärt er. Dennoch sorge er für eine außergewöhnlich gute Bezahlung, übernehme die Kosten für Anreise und Weiterbildung und lasse auch sonst viel mit sich verhandeln. Es bleibe trotzdem hart, gute Fachkräfte zu finden, insbesondere bei einem solchen Konzept.
Mit 50.000 Kontaktlinsen im Lager kann Bjørn Gottenborg viele seiner Kundinnen und Kunden direkt versorgen, ohne dass diese erst auf ihre Bestellung warten müssten.
In die Zukunft sieht der junge Unternehmer optimistisch und natürlich möchte er wachsen. Die Pläne dafür stehen bereits. Laut Gottenborg frequentieren täglich etwa 30.000 Reisende den Bahnhof Luzern, laut Reiseanbieter Omio sind es gar 85.000. Und obwohl sein Geschäft für viele Reisende ein Rettungsring bei kaputten Linsen oder leerem Pflegemittel ist, will er in Zukunft hauptsächlich für Einheimische Ansprechpartner für sämtliche Belange rund um die Kontaktlinse werden. Gottenborg möchte über Qualität wachsen, das Geschäft solide aufbauen. Dass das erst einnmal mit viel Arbeit verbunden ist, weiß er. „Man muss das Geschäft selbst formen, präsent sein.“ In Luzern sei ihm das bereits gelungen. „Ich habe meine bisherigen Ziele erreicht. Das kann ich so sagen.“
Und was sagen seine bisherigen Kunden aus dem Augenoptikgeschäft zu seinem Unternehmergeist? „Ich war immer fair und ehrlich“, sagt Gottenborg. Trotzdem sei er auf dem Radar einiger Kollegen, das wisse er. Er habe eine Chance ergriffen, die jeder hätte ergreifen können. Nun kämpft er natürlich auch für deren Erfolg. Und im Grunde macht er eigentlich nur da weiter, wo er bei CooperVision aufgehört hat. Nur diesmal hat er sich die Kontaktlinse selbst auf die Fahne geschrieben. Im Übrigen, und das hat fast eine eigene Komik, besitzt Gottenborg in seinem Geschäft auch Brillen. Diese lässt er natürlich nicht inhouse verglasen und es wird sehr deutlich, dass sie nicht zum Hauptgeschäft gehören. Bjørn Gottenborg hat den Spieß also umgedreht und die Brille zu dem gemacht, als was die meisten Augenoptikbetriebe die Kontaktlinse betrachten: zu einem Nebengeschäft.