Visualtraining im digitalen Zeitalter

Ocobii-Software soll Papierchaos ablösen

In der September-Ausgabe hatte Stephanie Wöhrle über das Visualtraining im Rahmen des Myopie-Managements berichtet. Doch nicht nur in diesem Bereich kommt das Visualtraining zum Einsatz – es gibt noch viele weitere Beschwerden, bei denen es Anwendung findet. Bisher bekamen Betroffene einen Stapel an Unterlagen mit und mussten im Zweifel wichtige Informationen mitschreiben. Damit soll jetzt Schluss sein: Wöhrle entwickelte zusammen mit Marcel Golob die Software Ocobii, die Patienten- und Trainingsplanverwaltung vereinfachen soll.
Ocobii-Software für Visualtraining

Papier und Mitschreiben – das war gestern. Heute sollen Ocobii-Software und -App das Visualtraining ins digitale Zeitalter führen und das Verwalten und Üben vereinfachen.

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Erstveröffentlichung in der DOZ 11|23.

„Tut mir leid, aber ich hatte keine Zeit, die Übungen zu machen“. Diesen oder ähnliche Sätze hörte Visualtrainerin Stephanie Wöhrle regelmäßig. Man könnte denken: „O.k., es sind ja deine Augen“, aber leider hat das nicht nur Auswirkungen auf die betroffene Person. Dieser eine Satz wirft sämtliche Vorbereitungen für die neue Sitzung und die aufbauenden Übungen über Bord, Wöhrle muss schnell improvisieren und während des Termins neue Übungen zusammenstellen. Dadurch wurde der Wunsch nach einer besseren Lösung geboren. Wöhrle arbeitet seit zwei Jahren mit dem Software-Entwickler Marcel Golob an der Ocobii- Software, zu der nun auch die passende App für Verbraucherinnen und Verbraucher geschaffen wurde. 

Der Name Ocobii ist ein Kompositum aus „Oculus“ und dem japanischen „Yorokobi“, das übersetzt Freude bedeutet – in der Hoffnung, dass Training mit der App Spaß macht. So soll es einen Mix darstellen und durch die beiden „i“ die Sehnervenbahn darstellen. Auch der Name ihrer Firma Senseii ist vom japanischen Wort Sensei, das am gängigsten mit „Lehrer“ übersetzt wird, abgeleitet. Es soll den Visualtrainerinnen und -trainern auf Augenhöhe eine Unterstützung in ihrem Alltag bieten. So nutzt auch Wöhrle die Ocobii-Software in ihrer täglichen Arbeit, sowie ihre Kunden die App.

Einer der Nutzer ist Timeo. Er kam zu Wöhrle, da er Beschwerden beim Lesen und anderen Naharbeiten hatte. Dadurch meidet er solche Tätigkeiten und empfindet sie als anstrengend, wodurch auch seine schulischen Leistungen leiden. Bei der Untersuchung wurde eine Akkommodationsinsuffizienz festgestellt und Timeo startete das Visualtraining und die Nutzung der Ocobii-App. Um Timeo die optimalen Übungen in der App zur Verfügung zu stellen, legte Wöhrle ihren neuen Kunden im Ocobii-Organizer für Augenoptikerinnen und Optometristen an.

Bei der Ocobii-Software handelt es sich nicht nur um ein Programm, mit dem man Trainingspläne erstellen kann. Zusätzlich ist dies ein Organizer, in dem die Kunden angelegt und alles protokolliert werden kann. Für verschiedene Beschwerden gibt es bereits vorgeschlagene Trainingspläne. Trotz allem dienen diese nur der Unterstützung, und Wöhrle kann die Pläne individuell anpassen oder auch komplett neu bauen. Die Trainingspläne werden in Form von Einheiten aufgebaut. In Einheit 1 soll Timeo zum Beispiel das Akkommodationstraining mit der Perlenschnur durchführen. Wöhrle kann diese Übung so oft und in so vielen Einheiten im Plan eintragen, wie sie möchte. Zur Übertragung der Daten wird lediglich die Mail-Adresse benötigt; weil er keine hat, wurde in diesem Fall die von Timeos Mutter genutzt. Die App kann trotz allem auf Timeos Handy installiert werden.

Übungen für Visualtraining

Benötigt man bei einer Übung doch mal eine gedruckte Übung, gibt es diese als Download in der App. Und die restliche Übung wird wieder über das Handy gesteuert.

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Wie beim Pingpong-Spielen

Doch wie kam es zur Entwicklung der App und des entsprechenden Programms? Stephanie Wöhrle ist staatlich geprüfte Augenoptikerin und Augenoptikermeisterin mit Ausbildung in Funktionaloptometrie sowie Heilpraktikerin mit Behandlungsschwerpunkten in chinesischer Medizin (TCM), Akupunktur und Posturologie. Bei der Entwicklung der Ocobii-Software steuerte sie den optischen Part bei, ihr Co-Gründer Marcel Golob als Software-Entwickler den technischen. So entstand eine gute Balance zwischen optischen Wünschen und technischen Möglichkeiten. „Wir haben uns den Pingpong-Ball immer hin und her gespielt und uns super ergänzt“, erzählt Wöhrle. Doch weil aller guten Dinge drei sind, wurde Silvana Dätwiler B.Sc. Optometrie FHNW, Funktionaloptometristin und Geschäftsleiterin Kreuzplatz des Sehzentrums Zürich, zur Testerin des Ocobii-Organizers. Sie hat noch einmal einen anderen Blick auf die Möglichkeiten und Funktionen der Software und gab Wöhrle und Golob Feedback zur Optimierung ihres Produkts.

„Es wird immer wieder Neuerungen in der Software oder der App geben. Das ist völlig normal, da sich die Anforderungen mit der Zeit immer wieder verändern werden“, erklärt Golob, dem klar ist, dass technischer Stillstand ein Rückschritt ist, den sie mit Ocobii nicht machen wollen. „Manchmal gab es neue Features, die für uns in der Klinik völlig unpraktikabel waren und ich dann Stephanie und Marcel erklärte, was wir benötigen“, erzählt Dätwiler aus der Anfangszeit. „Wir waren über das Feedback sehr froh und konnten so zusätzliche Möglichkeiten und Optionen einbauen“, resümiert Wöhrle. Denn es war kein Zufall, dass Wöhrle und Golob das Projekt Ocobii starteten: Beide hatten zuvor bei Ipro für den MyEyeTrainer gearbeitet. Nachdem dieses Projekt nicht weiterverfolgt wurde, starteten die beiden ihr Start-up und konnten in Absprache mit Ipro die Kunden übernehmen. Zu diesen zählte damals bereits das Sehzentrum Zürich mit Dätwiler.

Mitschreiben adé

Für die App waren jedoch alle drei auf die eine oder andere Weise zu sehr involviert und hier war das Feedback der Kundinnen und Kunden Gold wert. Neben den Übungen können sich Kinder wie Erwachsene über allgemeine optische Dinge informieren. So findet man auf der Startseite neben vielen anderen Einträgen einen zum Thema Myopie und was es ist. „Durch die App muss ich beim Termin nicht alles mitschreiben und kann die ausführlichen Anleitungen einfach in der App abrufen, wenn wir sie brauchen. Das ist eine große Hilfe und gibt mir die Möglichkeit, mich beim Termin auf mein Kind und Frau Wöhrle zu konzentrieren“, erzählt Timeos Mutter. Bei manchen Übungen sind alternativ Erklärvideos verfügbar, die jeder Augenoptiker oder jede Optometristin individuell in die App einpflegen kann. Die App ist übersichtlich und bietet einen separaten Reiter, um zu den Übungen zu gelangen. Hier stehen die Anleitungen und Erklärvideos zur Verfügung, sowie eine Zeitvorgabe und Stoppuhr. Durch diese Tools weiß Timeo, wie lange die Übungen dauern und kann sich so besser konzentrieren, da er weiß, wie lange die Übungen dauern werden und es so überschaubarer wird.

Trotz der Tools und Möglichkeiten sind der Software gewisse Grenzen gesetzt, da sie sonst unter das Medizinproduktegesetz (MPG) fallen würde. Die Software kann keine Daten auswerten und Übungsempfehlungen abgeben. So ist Ocobii eine Unterstützung all derer, die das Wissen auf diesem Gebiet besitzen und eine Unterstützung für ihren Alltag wollen. Gleichzeitig ist es dadurch so flexibel, dass es keine festen Pläne und Vorgaben gibt und jede Visualtrainerin sich alles so einstellen und konfigurieren kann, wie sie möchte. „Ich nutze keine der Vorlagen. Bei jedem Patienten erstelle ich meinen eigenen Plan und es ist trotz allem sehr einfach und geht schnell, wenn man seine Übungen im Programm hinterlegt hat“, erzählt Dätwiler aus ihrem Alltag.

Trainingsplan erstellen

In dieser Browseransicht kann die Visualtrainerin den individuellen Trainingsplan erstellen und die Übungen so oft einfügen wie nötig.

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Während Dätwiler alles selbst baut, nutzt Wöhrle die Vorlagen und ändert diese so um, wie sie es beim jeweiligen Patienten braucht. So auch beim Trainingsplan für Timeo. Nachdem der Plan konfiguriert war, wurde dieser per Knopfdruck auf die App geladen. Nun ging es für Timeo in die Sommerferien und er durfte die Übungen direkt sechs Wochen lang selbstständig bis zum nächsten Termin durchführen. In der Regel finden die Kontrolltermine alle drei Wochen statt, doch auch diese Zeitspanne variiert je nach Betrieb und Bedarf. Das Gute für Timeo: Er hat nach jeder Übung die Möglichkeit, ein Feedback ins Handy zu schreiben oder von seiner Mutter schreiben zu lassen, wie die Übung war. Also ob er Probleme oder Schmerzen hatte oder die Übung vielleicht auch sehr einfach für ihn war. Diese Informationen werden an Wöhrle übermittelt und so kann sie immer wieder schauen und prüfen, was für den nächsten Termin oder für den Trainingsplan zu beachten gilt. Beim nächsten Termin zeigte sich bei Timeo schon eine deutliche Verbesserung. Hatte er zu Anfang den binokularen Flipper-Test mit Minusgläsern gar nicht ausgleichen (scharfstellen) können, so gelang ihm dies nun nach zwei Sekunden. Auch die Qualität des  Stereosehens verbesserte sich von einer Winkelminute auf 12,5 Winkelsekunden. Nach der kurzen Zeit zeigten sich beim Kontrolltermin also schon deutliche Erfolge.

Ausbau der Funktionen geplant

Doch was wäre, wenn Timeos Familie in den Norden Deutschlands umziehen würde, könnten Sie die App und Trainingspläne einfach zu einem neuen Visualtrainer mitnehmen? „Leider ist das nicht so einfach möglich, aufgrund der Datenschutzrichtlinien“, erklärt Wöhrle. Sollte ein solcher Fall eintreten und beide Trainerseiten und Timeos Familie einverstanden sein, könnte Wöhrle die Daten übertragen. „Dieser Fall wird sehr unwahrscheinlich eintreten, da jede Visualtrainerin ihr eigenes Vorgehen beim Training hat und demnach einen eigenen neuen Plan erstellt, trotz allem ist es nicht unmöglich“, sagt Wöhrle. Sollte dann aber mal ein Kunde vor der Tür stehen und den Visualtrainer auf Ocobii ansprechen, kann sich dieser die Software auch in kleinem Rahmen zulegen.

App Startseite und Übungen

Auf der Startseite der App können Informationen zu Fehlsichtigkeiten als kleine Blogeinträge gelesen werden. Geht man danach auf die Übungsseite, wird angezeigt, welche Übungen noch offen sind und absolviert werden müssen.

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Die Software gibt es in der Basic- oder Premium-Lizenz-Variante. Beide sind monatlich oder jährlich buchbar. Dasselbe gilt auch für die App, bei der wieder zwischen Basic und Premium ausgewählt werden kann. Bei der Basic-Variante können zehn Kunden eingetragen werden und kostet 99 Euro netto. Die Premium- Variante ist ohne Limit, also eine Flatrate, und kostet 348 Euro netto im Jahr. Somit hat jeder Augenoptiker oder jede Optometristin die Möglichkeit, zwischen Basic und Premium, der alleinigen Software-Nutzung oder mit App zu wählen. Auch nur mit der Software für die Trainerin kann diese den Trainingsplan als QR-Code ausdrucken und mitgeben. Zukünftig planen Wöhrle und Golob den Ausbau der Ocobii-Funktionen und wenn die Software noch bekannter ist, diese auch in andere therapeutische Berufe wie Ergo-, Physiooder Logotherapie einzuführen. Sie ist überzeugt: „Ocobii kann eine Unterstützung in jedem Beruf sein, bei dem Heimübungen gemacht werden sollen – für Therapeutin und Anwender.“

Was kostet Visualtraining?

Aktuell gibt es circa 250 Visualtrainerinnen und -trainer in Deutschland. Die Kosten werden entweder als Paketpreise oder als Einzelsitzungspreise angeboten, da eine Behandlung nicht ausreicht. So verhält es sich auch mit den zusätzlich benötigten Übungsmaterialien. Je nach Visualtrainer sind diese bereits im Preis enthalten oder müssen separat zugekauft werden. Preislich kann man grob zwischen 80 und 140 Euro für eine 75-Minuten-Sitzung plus Übungsmaterialien rechnen. Je nach Anbieter und Bedarf können somit zusätzlich zwischen 100 und 500 Euro für die Übungsmaterialien anfallen. In Deutschland übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen keine Kosten für die Behandlung. Privat- oder Zusatzversicherte müssen im jeweiligen Tarif nachschauen oder bei der Versicherung anfragen, da es hier zu viele verschiedene Tarifvarianten gibt.