Reform der Hilfsmittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung
Erstveröffentlicht in der DOZ 09I23
Dass der Gesetzgeber handeln muss, wurde im Laufe des vergangenen Jahres zusehends deutlich: Am 7. April 2022 entschied das Bundessozialgericht, dass der GKV-Spitzenverband die Festbeträge in den vergangenen Jahren falsch berechnet hat. So dürfe der GKV-Spitzenverband entgegen seiner Praxis – auch bei den Sehhilfen – nicht betriebswirtschaftlich kalkulieren, vielmehr müsse er sich bei deren Festlegung an den realen, am Markt üblichen Abgabepreisen orientieren.
Fast zeitgleich meldete sich der Bundesrechnungshof in einem Beratungsbericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags zu Wort: Die Krankenkassen hätten in der Mehrheit nicht kontrolliert, wie die Leistungserbringer die Versicherten versorgen. Deshalb sollen die Leistungserbringer – also alle Betriebe, die Hilfsmittel wie beispielsweise Sehhilfen, Beinprothesen, Einlagen, Hörgeräte oder Haarersatz abgeben – die Dokumentation über die erfolgte Beratung der Kunden, welches aufzahlungsfreie Hilfsmittel für sie in Betracht kommt, „regelhaft“, also immer, mit der Abrechnung bei den Krankenkassen einreichen. Zudem sollen Produktbereiche, die „unverhältnismäßig zu Mehrkosten neigen“, unter „Genehmigungsvorbehalt“ gestellt werden – Hilfsmittel dürfen also erst dann abgegeben werden, wenn diese zuvor von der zuständigen Krankenkasse genehmigt wurden.
Kritik allein an Krankenkassen adressiert
Im Oktober legte dann das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) einen ganzen „Sonderbericht über die Qualität der Hilfsmittelversorgung“ vor. Das BAS führt die Rechtsaufsicht insbesondere über alle Ersatzkassen. Auch das Bundesamt sah Versäumnisse bei den Krankenkassen. Diese hätten zu wenige Versorgungsverträge geschlossen, sie informierten weder ihre Mitglieder noch andere Leistungserbringer über die Inhalte der von ihnen geschlossenen Verträge und sie prüften die Qualität der Hilfsmittelversorgung nur unzureichend.
Fazit: Die aktuelle Kritik ist allein an die Krankenkassen adressiert, allerdings mit dem kaum subtil verpackten Vorwurf, die Leistungserbringer müssten kontrolliert werden, da sie den Versicherten unnötige mehrkostenpflichtige Versorgungen aufdrängten.
Mehrkostenberichte des GKV-Spitzenverbands sind unergiebig
Bei den ganzen Vorschlägen bleibt unklar, woher der Argwohn insbesondere gegenüber den gesundheitshandwerklichen Leistungserbringern kommt. Die Krankenkassen können es aufgrund der ihnen vielfach bescheinigten nicht durchgeführten Kontrollen nicht wissen. Auch auf Versichertenbefragungen haben die Krankenkassen überwiegend verzichtet – mit Ausnahme für die Hörgeräteversorgung, die aber zum Ergebnis hatte, dass die Versicherten mit überwältigender Mehrheit zufrieden waren. Auch die jährlich erscheinenden Mehrkostenberichte des GKV-Spitzenverbands sind unergiebig: Zwar ist der Anteil der mehrkostenpflichtigen Versorgungen insbesondere für Hörgeräte, Sehhilfen und Einlagen vergleichsweise hoch. Doch selbst der GKV-Spitzenverband stellt fest, dass die Neigung der Versicherten, einen Teil der Kosten aus eigener Tasche zu zahlen, bei Hilfsmitteln, die im Gesicht getragen werden, aus ästhetischen Gründen hoch ist. Und die Langlebigkeit dieser Hilfsmittel erhöht die Bereitschaft der Versicherten, für Komfort Mehrkosten zu akzeptieren.
Ästhetik und Komfort und nicht falsche Beratung oder gar Übervorteilung sind also die Treiber für mehrkostenpflichtige Versorgungen. Man möchte dem Bundesrechnungshof und dem BAS zurufen, dass die Krankenkassen erst einmal die Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen unter den Leistungserbringern durchführen sollten, zu denen sie verpflichtet sind. Und erst, wenn diese dann Missstände offenbaren, kann über weitere Pflichten nachgedacht werden.
Präqualifizierungsverfahren muss dringend entbürokratisiert werden
Im Juni haben sich der GKV-Spitzenverband und der ZVA – einmal gemeinsam mit den anderen Verbänden als Arbeitsgemeinschaft der Gesundheitshandwerke und einmal mit einem eigenen Papier – für das bevorstehende Gesetzgebungsverfahren positioniert. Einig sind sich alle, dass das Präqualifizierungsverfahren dringend entbürokratisiert werden muss. Dies soll sich insbesondere bei den anlasslosen Überwachungen in Form von Betriebsbegehungen auswirken: Die Krankenkassen fordern diese von zwei auf eine innerhalb des fünfjährigen Präqualifizierungszeitraums zu reduzieren, nach Ansicht des ZVA sollten diese ganz entfallen. Weiter wollen die Krankenkassen und die Verbände den reduzierten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent einheitlich auf alle Hilfsmittel anwenden.
Damit enden dann auch die Gemeinsamkeiten: Die Krankenkassen wollen mit Hilfe von Ausschreibungen und Einzelverträgen künftig ihre Preisvorstellungen noch einfacher durchsetzen können und schließen sich der Forderung von Bundesrechnungshof und BAS an, die Dokumentationspflichten der Leistungserbringer auszuweiten. Dass Ausschreibungen und Einzelverträge durchaus geeignete Instrumente sind, um Ausgaben zu reduzieren – das hat die Vergangenheit in der Tat gezeigt. Allerdings ging dies nachweislich zum Nachteil der Versorgungsqualität und damit zum Nachteil der Versicherten. Aus gutem Grund hat die Politik 2017 und 2019 den Kassen diese Möglichkeiten genommen.
Ärztliche Verordnung nur initial vor der Erstversorgung
Aus Sicht des ZVA ist aber das bevorstehende Gesetzgebungsverfahren auch ein guter Zeitpunkt, um die Hilfsmittelversorgung mit weniger ärztlicher Mitwirkung zu gestalten. So sollte eine ärztliche Verordnung für die Versorgung mit therapeutischen Sehhilfen nur initial vor der Erstversorgung eingeholt werden, danach nicht mehr. Dies spart Zeit der Versicherten und der Ärzte und damit auch Geld für die Krankenkassen, da dann Arztbesuche nur für das Ausstellen von Verordnungen entbehrlich werden. Auch hinsichtlich der Versorgung der Versicherten mit vergrößernden Sehhilfen müsse laut ZVA der Gesetzgeber aktiv werden: Die notwendigen Anpassungen und Erprobungen bei der Low-Vision-Versorgung, die im Vorfeld der Erstellung der ärztlichen Verordnung durchgeführt werden müssen, sollte den Augenoptikern zugewiesen werden – so wie dies in der Realität bereits durchweg der Fall ist. Denn dann könnten die Krankenkassen die Augenoptiker für diese Dienstleistungen auch vergüten. Heute müssen die Versicherten dies als Mehrkosten zahlen, die dann wegfallen.
Der Vorschlag des Bundesrechnungshofs, jede der jährlich knapp 1,2 Millionen Sehhilfenversorgungen durch die Krankenkassen genehmigen zu lassen, erscheint mit Blick auf die Personalkosten (irgendjemand muss die Genehmigungen ja erteilen) und unter Berücksichtigung des von allen Seiten geäußerten Wunsches, die Versorgungen zu entbürokratisieren, dann doch nicht sauber durchgerechnet zu sein – und den Kreis bekäme man so ganz gewiss nicht eckig.
Autor: Jan Wetzel