Zwischen Angst und Glückseeligkeit
Martin Balke, ein nach Norwegen ausgewanderter Augenoptikermeister und Optometrist, engagiert sich bei einem Hilfsprojekt der Organisation Ocular Globe in Haiti. Vom 7. bis 18. Februar war er vor Ort und erlebte Wut und Gewalt auf den Straßen. Viele Menschen in Haiti sind wütend wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage und der Korruption. Balke hat seine Erlebnisse während der Reise niedergeschrieben.
Hintergrund
Ocular Globe ist eine gemeinnützige Organisation, deren Ziel es ist, a) Sehteste in Ländern durchzuführen, in denen die Menschen keinen Zugang zu diesen haben und b) den Menschen vor Ort mit geeigneten Sehhilfen zu helfen einen besseren Alltag zu erleben. Bei den Sehhilfen handelt es sich hauptsächlich um aussortierte gebrauchte oder mit Hilfe von Spendengeldern oder Sachspenden aus der Industrie angefertigte Brillen und Sonnenbrillen.
Das ausgerechnet in diesem Zeitraum schwere Ausschreitungen gegen die haitianische Regierung ausbrachen oder besser gesagt die Ausschreitungen eskalierten, ja sich zu den schwersten seit Jahrzehnten hochschaukelten, konnte niemand ahnen. Im Vorhinein waren keine Reisewarnungen ausgegeben worden.
Demonstrationen gegen Regierung
Haiti ist das ärmste Land des amerikanischen Kontinents. Präsident Jovenel Moïse ist seit zwei Jahren im Amt. Bereits die Wahl war umstritten und von Protesten begleitet. Die Wahlbeteiligung von gerademal 23 Prozent spiegelt die Hoffnungslosigkeit und das mangelnde Vertrauen auf Besserung wider. Wie überall wurden auch der haitianischen Bevölkerung vor der Wahl große Versprechen gemacht. Besonders für die, auf 80 Prozent geschätzte, arme Bevölkerung sind aber keinerlei Verbesserungen in Sicht. Regierungsvertretern wird in regelmäßigen Abständen unter anderem die Veruntreuung von Geldern vorgeworfen.
Das Volk ging schon oft in den letzten Jahren auf die Straße und entwickelte sich, im Rahmen dieser Ausschreitungen, zu einem unberechenbaren Mob. Die Ausschreitungen im Februar 2019 führten in der Folge zu Straßenblockaden. Steine und Molotov-Cocktails flogen, Schulbusse brannten aus, Krankenhäuser kamen an ihre Kapazitätsgrenzen, Ausländer im Lande konnten sich nicht mehr sicher fühlen. Unter anderem Kanada und die Vereinigten Staaten sammelten ihre Staatsbürger mit Helikoptern ein und flogen sie aus.
Anreise
Die Delegation von Ocular Globe bestand aus den drei norwegischen Augenoptikern Frode Larsen, Marianne Larsen und John Hedegaard, dem deutschen Augenoptiker,Martin Balke und drei, ebenfalls aus Norwegen stammenden Assistenten Marianne Baardsen sowie Aase und Geir Lund. Der Kontakt von Ocular Globe nach Haiti lief über Ingvill Konradsen Ceide, die schon vor zwanzig Jahren die Organisation „Projekt Haiti“ ins Leben gerufen hatte und mit „Petit Troll“ sowohl eine Schule in Port-au-Prince als auch in Saint Louis Du Sud betreibt. Ingvill stellte ein lokales Team aus Dolmetschern, Köchin und Fahrern.
Die Reisegruppe wurde am 8.Februar von Ingvill Konradsen Ceide und ihrem Mann, dem Politiker Edwin Ceide, in Port-au-Prince empfangen. Die Fahrt sollte am gleichen Tage in die Provinz „Departement Sud“ in die Stadt Saint Louis Du Sud führen. Bei ihrer Ankunft erfuhr die Delegation, dass die Fahrt an diesem Tag nicht wie geplant zum Zielort Saint Louis du Sud weiter gehen konnte, weil es in der Hauptstadt Unruhen gab und einige Straßen aus Port-au-Prince heraus blockiert waren. Selbst wenn sie aus der Hauptstadt herauskämen, waren, nach eingehenden Informationen, einige Städte, die sie zwingend hätten durchfahren müssen, unpassierbar.
Halbautomatisches Gewehr: „Nur für alle Fälle!“
Am nächsten Morgen wurde eilig das Gepäck auf einen Minivan und einem Pickup verstaut. Edwin Ceide, ein Hüne von 1,90 m Größe, trug ein schwarzes T-Shirt und Armeehose. Früher war er Soldat, jetzt ist er der ehrenamtliche Bürgermeister von Saint Loius du Sud. Er versicherte der Delegation für ihre Sicherheit sorgen zu wollen und verstaute sein halbautomatisches Gewehr in einem großen Rucksack. „Nur für alle Fälle“, saget er lächelnd.
Halb sieben drehten die Reifen durch und Schotter spritzte an den Unterboden. Nach ein paar Kurven ging es bergab in die Stadt. Ceide raste mit dem Pickup vorneweg, der Minivan versuchte an ihm dranzubleiben. Im Stadtzentrum waren bereits tausende, meist junge Menschen, auf den Beinen. Einige rannten, gestikulierten wild und riefen sich aufgeregt zu. Andere standen in Gruppen zusammen an den Straßenrändern. Die Straßen ertranken im Müll aus Lumpen, Papier und Plastik. Überall rauchten Müllhaufen und Reifen. Die meisten fahrbaren Vehikel, ob Busse, Pickups, Autos, Mopeds oder Bollerwagen, waren vollständig überladen. Der Tross umkurvte brennende Reifen und ausgebrannte Autos. Ein ausgebrannter Schulbus stand halb auf der Straße. Den Mitgliedern der Reisegruppe war schlecht. Wo waren sie hier nur hingekommen? Keiner sprach auch nur ein einzelnes Wort, auch die Dolmetscher nicht.
Urplötzlich stoppten die Wagen. Eine Blockade. Verdammt. Ceide und seine Frau sprangen aus dem Pickup. Sie rannte um das Auto herum und sofort auf den Fahrersitz. Er verschwand in der Menge. Ingvill drehte den Wagen in zwei Zügen und gab dem Fahrer des Minivans zu verstehen, dass er ihr folgen solle. Der fluchte, drehte auch und fuhr ihr ein Stück weit hinterher zurück auf den Platz. Da stand Edwin Ceide und dirigierte die Wagen hastig winkend durch eine halboffene Blockade und sprang wieder ins Auto. Er hatte mit einigen Demonstranten gesprochen und erfahren, auf welchem Wege sie aus Port-au-Prince herauskommen konnten. Der Tross raste weiter durch die Gassen.
Gesetz des Schnelleren
Die Häuser hatten abgeblätterte Fassaden. Früher waren sie pink, knallgelb, grasgrün oder himmelblau. Dünne Ziegen weideten auf Schutthalden, abgemagerte Hündinnen mit ausgemergelten herunterhängenden Zitzen liefen lebensmüde über die Straße. Endlich waren sie aus Port-au-Prince heraus. Außerhalb der Stadt gaben die Fahrer ordentlich Gas.
Hier gilt das Gesetz des Schnelleren. Der Schnellere der von hinten auf einen anderen auffährt, macht durch Hupen auf sich aufmerksam und der langsamere fährt ein Stückchen nach rechts, sodass der andere vorbei kommen kann. Das passiert allerdings in beide Richtungen gleichzeitig, was die Sache hin und wieder etwas spannend macht. So benutzen gelegentlich vier Fahrzeuge gleichzeitig die ganze Straßenbreite. Auf der Route Nationale 2 nahm der Verkehr ab. Es ging an Plantagen vorbei auf denen ärmliche Hütten standen. Die Helfer von Ocular Globe atmeten erst einmal durch. Sie kamen durch Dörfer mit bunten Häusern. Wäsche trocknete im Straßenstaub. Straßenverkäufer boten ihre Waren an: gebackene Bananen, Wasser, Kekse, Lose.
Verzweiflung in den Augen der Menschen
Nach zwei Stunden näherten sie sich Petit-Goave. Schon vor den Toren der Stadt kamen ihnen Autos und Trucks entgegen. Deren Fahrer hingen weit aus den Fenstern und winkten ab. Alles sei blockiert. Eine andere Straße gab es nicht, sie mussten es also probieren. In Petit-Goave waren die zwei Wagen augenblicklich von hunderten Männern auf ihren Mopeds umringt. Erst begleiteten sie sie wütend schimpfend. Im Stadtzentrum versperrten sie ihnen schließlich den Weg. Zwanzig, dreißig Mopeds umringten die zwei Wagen. Die aggressive Menge trommelte mit den Händen gegen die Scheiben des Kleinbusses. Jemand versuchte die Schiebetür aufzureißen. Die Dolmetscher schrien den Eindringenden entgegen und halfen die Tür wieder zuzuschieben. Die Helfer von Ocular Globe saßen wie ohnmächtig da und konnten nichts tun. Sie konnten nur hoffen, dass Edwin Ceide die Meute überzeugen konnte, dass seine Gäste keine amerikanischen Missionare seien, und diese die Wagen letztlich durchlassen würden. Plötzlich winkte er und der Tross setzte sich wieder in Bewegung. Einige Mopeds fuhren vorneweg und leiteten sie weg von der Hauptstraße in entgegengesetzte Richtung. Jemand warf einen Stein hinter ihnen her und löschte ein Rücklicht aus. Es ging durch enge winklige Gassen. Nach ein paar Minuten waren sie weit genug aus dem Zentrum heraus und hatten die Sperre umfahren. Die Mopeds drehten ab und die Wagen waren zurück auf der Hauptstraße und aus Petit-Goave heraus. Die Fahrer gaben die Sporen, der Kies spritzte. Eine lange Rauchfahne folgte ihnen bis in die Berge.Die Verzweiflung in den Augen der Menschen, die nichts zu verlieren haben, hatte keiner von ihnen erwartet und machte ihnen Angst.
In Haiti gibt es keine einstimmige Opposition, die die Regierung unter Druck setzen kann. Das haitianische Volk ist zwar für seine lange Leidensfähigkeit und Geduld bekannt, jetzt scheint die Geduld allerdings aufgebraucht. Die Bevölkerung will nach Jahren der Veruntreuung von Hilfsgeldern und deren mangelnder Aufklärung, das Hinhalten seitens der Regierung nicht mehr akzeptieren und die Sache selber in die Hand nehmen. Das Blockieren der Lebensadern des Landes wird dabei als probates Druckmittel angesehen. Ziel ist es, den Transport von Benzin, Wasser und Nahrungsmitteln zu behindern. Dadurch soll noch mehr Unzufriedenheit geschürt werden, die sich in unberechenbarer Gewalt gegen die Regierung, aber auch gegen alles was anders ist, auch auf alles was nicht schwarz ist, entlädt. Besonders der Hass auf Amerikaner scheint riesig groß zu sein.
In Haiti haben große Teile der Bevölkerung keinen Zugang zu frischem Trinkwasser, Strom und Bildung. Viele Menschen leiden unter Hunger. Wenn die Eltern das Geld aufbringen können, um ihre Kinder in die Schule zu schicken, dann ist die Mahlzeit in der Schule für die Kinder oft die einzige Mahlzeit des Tages. 40 Prozent der Menschen sind Analphabeten. Informationen verbreiten sich hauptsächlich von Mund zu Mund. Diejenigen die es sich leisten können haben Smartphones. WhatsApp ist neben Twitter die wichtigste Plattform zur Informationsverteilung.
160 Kilometer in fünf Stunden
Aus den Bergen führte die Straße hinunter ans Meer und setzte sich an der Küste fort. Die Sonne stand hoch am Himmel. Plötzlich war um sie herum das Paradies. Was für ein krasser Kontrast. Sie fuhren weiter. Palmen standen am Strand. Der Plastikmüll an den Straßenrändern war nicht mehr wichtig. Die abgeranzten Schilder die für billigen Sex warben, an den Häusern mit ihren abgeblätterten Fassaden, sahen sie nicht mehr so genau an. Auch den mageren Kühen auf den Plantagen maßen sie keine Bedeutung bei.
Wellblechgedeckte Hütten wuchsen links und rechts der Straße aus dem Staub. Nach und nach wurden es mehr und mehr, irgendwann war es ein Nest. Die Wagen bremsten und fuhren nach rechts in eine Einfahrt. „Petit Troll“ stand auf dem Schild. Die Autos donnerten den steilen unbefestigten Pfad zum Gästehaus hinauf, einem weißgetünchten, neuen, zweigeschossigen Betongebäude. Sie waren da. Es war Mittag. Jemand hatte mitgezählt – für die hundertsechzig Kilometer hatten sie über fünf Stunden gebraucht und mussten insgesamt fünfunddreißig Blockaden umfahren.
Arbeit
Die Helfer von Ocular Globe bekamen Zimmer in der ersten Etage. Ein Laubengang umlief die gesamte erste Etage des Gästehauses. Ein erster Blick aus dem Fliegengitter fiel auf Palmen und auf zwei Inseln in der leuchtend blauen karibischen See. Vor dem Haus stand ein großer Mangobaum. Das Paradies – wahrhaftig.
In einer langen Holzbaracke, die am Fuße des Campus unter großen Bäumen stand, bauten die Helfer in drei der vier großen Klassenräume ihre Stationen auf. Ingvill Ceide trommelte die ersten Patienten zusammen. Im ersten Raum bezog Geir Quartier. Er sollte in den nächsten Tagen die Registrierungen und Voruntersuchungen machen. In den Raum daneben wurden Tische geschleppt und drei von ihnen der Länge nach zusammengeschoben. Die Koffer mit den Brillen kamen hier hinein und Aase und Marianne organisierten die Brillenabgabe. Auf den linken Tisch kamen die Gefrierbeutel mit Brillen in Minus-Stärke, daneben die Brillen in Plus und außen die Sonnenbrillen. Die Optiker bereiteten den dritten Raum vor. Zwei von ihnen teilten sich jeweils einen Tisch. Tischdecke darauf, Prüfkoffer, Skiaskop, Ophthalmoskop, Flipper, Okluder, Penlight, Nahprüftafel und Kugelschreiber. Die Prüftafeln hefteten sie mit Klettband an die Wand. Es konnte losgehen.
Die ersten Patienten waren Angestellte, Helfer und Nachbarn. Als sich der Besuch der Organisation herumgesprochen hatte, kamen mehr und mehr Leute aus der Stadt. Insgesamt wurden über 150 Sehteste bis es zu dunkel gemacht. Keiner dachte mehr an die beschwerliche Anreise. Sie schwitzten und lachten und waren glücklich als sie fertig waren.
3.000 Korrektionsbrillen und 2.000 Sonnenbrillen
An den nächsten Tagen sahen sie jeweils schon vor dem Frühstück, dass hunderte Menschen vor der Baracke saßen und auf sie warteten. Sie konnten nicht an die Situation im Lande denken und machten von morgens bis zum Einsetzen der Dunkelheit Sehteste, lieferten Korrektionsbrillen oder Sonnenbrillen aus. Insgesamt hatten sie etwa 3.000 Korrektionsbrillen und 2.000 Sonnenbrillen in ihren Koffern.
Geir machte die Voruntersuchungen. In dem Voruntersuchungsraum war Platz für etwa zehn Leute, die sich auf die Schulbänke quetschten. Die meisten hatten Schwierigkeiten anzugeben, was für Beschwerden sie hatten. Viele hatten möglicherweise auch gar keine Beschwerden, weil sie gar nicht wussten, wie es ist, besser zu sehen. Als ein Mann sagte, er habe aufgrund einer Schussverletzung ein Auge verloren, schnappten es die nachfolgenden Patienten auf und behaupteten gegenüber Geir, dass auch sie eine Schussverletzung hätten. Es war offensichtlich, dass dem nicht so war. Manche Leute hatten vermutlich Angst, dass sie nichts bekommen würden, wenn sie keine ernsten Probleme angeben konnten.
Nach den Voruntersuchungen wurden die Patienten in Wartezonen platziert und kamen der Reihe nach zu den Optikern. Die meisten Patienten hatten moderate bis starke Brechungsfehler. Viele von ihnen hatten in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich noch nie einen Test gemacht und konnten, trotz geduldiger Erklärung durch die Dolmetscher, nicht angeben, in welche Richtung ein Schnellen-Haken offen war und gaben konsequent die entgegengesetzte Richtung an.
Alle Patienten haben sich herausgeputzt
In der Baracke herrschte eine Grundkakophonie. Ein Ventilator brummte und schaufelte die klamme Luft von einer Seite des Raums auf die andere. Die vier Optiker und Dolmetscher brabbelten durcheinander - ab und zu rief jemand oder musste stärker reden, wenn der Patient schlecht hörte. „Gade tablo a, mamma“, rief Claude, der Dolmetscher vom deutschen Augenoptiker Martin Balke. „Gade tablo a! Gade tablo a, mamma!“. Nach und nach ging das Rufen in Schreien über „Guck nach vorne auf die Prüftafel, Mutter!“. Die Sonne brannte auf das Wellblechdach. Das Wasser lief ihnen den Rücken hinunter. Ein grüner Gecko verkroch sich unter die Baracke im Schatten. Von den draußen Wartenden schwappten die Unterhaltungen mehr oder weniger intensiv herein.
Alle Patienten hatten sich fein gemacht. Die erwachsenen Frauen kamen in ihren schönsten Kleidern oder Blusen und hatten Hüte oder Mützen auf dem Kopf. Die Männer hatten ihre beste Hose und ihr bestes Hemd an, viele trugen Schlips und Hut. Die Kinder waren sehr niedlich zu recht gemacht. Die Mädchen hatten bunte Kleidchen und geflochtene Zöpfe und die Knaben weiße Hemden und verzierte Westen an. Alle waren sehr schüchtern, aber sehr flink in den Tests. Ein Mädchen strich Balke über den Arm, und guckte ungläubig, als die weiße Farbe nicht von seiner Haut herunter ging. Viele der Kinder hatten erhebliche Brechungsfehler und konnten sich über ihre Brillen freuen.
Ein alter Mann wurde in Balkes Prüfecke geführt. Er konnte kaum laufen und tippelte zum Stuhl. Es war offensichtlich, dass er fast nichts sehen konnte. Ein Retinoskopirefleks war nicht zu sehen, die Miosis und der Katarakt war zu stark. Er war deutlich über 80, aber er erinnerte sich nicht an sein Geburtsjahr. Eine Katarakt Operation käme für ihn nicht in Frage, sagte er. Claude hielt die Prüftafel in einem Meter Entfernung. Der alte Mann konnte das oberste Zeichen sehen. Balke gab ihm ein Glas mit plus drei und fragte ob es schlechter sei. Der alte Mann konnte keinen Unterschied ausmachen. Balke gab ihm ein Glas mit minus drei und hier war sich der alte Mann nicht sicher ob es anders war. Balke gab ihm eines mit plus sechs, das war schlechter. Mit dem Glas mit minus sechs sah der alte Mann endlich die zweite und dritte Reihe. Am Ende sah der alte Mann mit beiden Augen am besten mit einer Stärke von etwa minus neun. Sie gingen nach nebenan in den „Shop“ und fanden eine Brille mit der ungefähren Stärke, die ihm gut passte und gut stand. Der alte Mann konnte anfangs nichts sagen. Er konnte es auch nicht fassen und er konnte es auch nicht glauben, dass er etwas sah und vielleicht konnte er auch nicht verstehen warum das möglich war.
Als es nach einer weiteren Stunde zu dunkel im Prüfraum war und die Optiker langsam zusammenpackten, saß der alte Mann noch immer auf der Bank und sah sich die Gegend an. Geir Lund stieß Martin Balke in die Seite und sagte: „Guck mal! Jetzt guckt er sich die Gegend an. Wahrscheinlich hat er schon seit Jahren nicht mehr richtig gesehen. Welche Stärke hast du ihm gegeben?“. „Etwa minus acht“, sagte Balke. „Unglaublich“, antwortete Lund. Das ist also der Unterschied zwischen juristisch blind und sehend. Der Visus war etwas besser als null drei.
Resultate
Insgesamt machten die Mitglieder von Ocular Globe, in den fünf Tagen 1.500 Sehteste und lieferten 2.300 Brillen mit Stärke und 1.100 Sonnenbrillen aus. Etwa 50 Brillen waren so individuell, dass sie nicht vorrätig waren. Die entsprechenden Brillen wurden bereits in Norwegen angefertigt, nach Haiti geschickt und von Ingvill und Edwin Ceide ausgeliefert. Einigen Patienten konnte mit einer Sehhilfe nicht geholfen werden, die meisten von diesen hatten Katarakt. Aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung in Haiti haben die allermeisten Menschen keinen Zugang zu einer Operation oder können eine Operation nicht bezahlen. Die extremsten Fälle - es waren etwa 40 Personen - wurden an eine Klinik überwiesen, mit der Ocular Globe im Vorhinein einen Vertrag über die Kosten gemacht hatte.
Die politische Situation spitzte sich zu. Die Nachrichten aus der Hauptstadt Port-au-Prince und den anderen großen Städten Haitis wurden von Tag zu Tag immer dramatischer. Überall wüteten Aufstände. Die gebeutelten Haitianer, die gemeinhin als geduldig bekannt sind, wurden immer rastloser. Der haitianische Präsident Moïse äußerte sich erst, als die Proteste gegen ihn schon vier Tage in vollem Gange waren. Nach seiner Rede eskalierte die Situation noch stärker, überall flogen Molotov Cocktails und Steine. Es gab Verletzte. Das Krankenhaus in Port-au-Prince musste zeitweilig aus Kapazitätsgründen schließen. Die USA und Kanada begannen am Mittwoch ihre Landsleute in ganz Haiti mit Helikoptern einzusammeln und auszufliegen.
Warnung vor Rückreise
Die Situation auf dem Campus von Projekt Haiti und „Petit Troll“ war ruhig und die Mitarbeiter von Ocular Globe fühlten sich hier die ganze Zeit über sicher. Ihre Reise sollte am Freitag nach Port-au-Prince zurückführen. Am Samstagmorgen war der Rückflug in die Dominikanische Republik gebucht. Es wurde allerdings von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, das die Helfer wie geplant zurück nach Port-au-Prince kommen würden und ihre Reise wie vorgesehen fortsetzen konnten.
Die Norweger Frode Larsen und Geir Lund riefen das norwegische Außenministerium an. Dieses hatte aber nur spärliche Informationen. Norwegen hat ein Konsulat in Port-au-Prince, doch der norwegische Konsul, ein haitianischer Baumarktbesitzer, hatte die Botschaft in Havanna/Kuba noch nicht einmal über die Situation auf der Nachbarinsel in Kenntnis gesetzt. Das norwegische Außenministerium konnte allein aufgrund der Informationen, die es von Larsen und Lund bekam, keine Reisewarnung ausgeben. Dies holte das Außenministerium nach, nachdem sich Larsen an Medienvertreter von NRK (Norwegischer Rundfunk) gewandt hatte und dieser mit einer Schlagzeile über die dramatische Reise von Ocular Globe auf ihrer Online-Plattform berichtete.
Balke rief die Deutsche Botschaft in Port-au-Prince an. Die Botschaftsmitarbeiterin machte ohne Umschweife klar, dass die Rückreise auf dem Landweg nicht zu verantworten sei. Es gäbe einen kleinen Flughafen weiter westlich in Les Cayes – hier sollte man sich ein Flugzeug chartern. Es wurden auch alternative Abreisemöglichkeiten wie Helikopter oder Boot diskutiert, aber alle verworfen. Ingvill und Edvin Ceide hatten zuvor auch schon von diesem Flugplatz in Les Cayes gesprochen und unternahmen alles, um die Reisegruppe am Freitag sicher dort hin zu bringen. Ingvill charterte ein Flugzeug. Die Gruppe durfte ein Gesamtgewicht von 750 Kilogramm nicht überschreiten, weil die Flugzeuge klein und die Startbahn kurz waren.
Abreise
In der Nacht vor der Abreise klatschte der Regen durch den Mangobaum, der vor dem Gästehaus stand. Es hörte aber genauso plötzlich wieder auf, wie es angefangen hatte. Nach dem Frühstück saßen sie auf gepackten Koffern, während Edwin und Ingvill versuchten, Informationen aus den zu durchfahrenden Ortschaften zu bekommen. Dann kam die Ansage von Ingvill Ceide. „Wir essen jetzt Mittag, in einer halben Stunde geht es los.“ Gebackene Bananen, Reis mit Mais und Erbsen und kleinen Fleischstückchen. Hunger hatte keiner.
Sie hatten zwei Pickups. Das Gepäck wurde bei Edwin auf der Ladefläche verstaut. „Alle einsteigen“, lautete Edwins Kommando. Als sie die Helfer drinnen saßen, klettern die Dolmetscher hinten auf die Ladefläche. Edwin packte die Rucksäcke mit dem Maschinengewehr und den anderen Pistolen hinter den Fahrersitz. Die Wagen setzen sich in Bewegung. An den Straßenrändern liefen die Leute in beide Richtungen. Es waren keine anderen Autos unterwegs. Etwa am Ortsausgang sahen sie die ersten Baumstämme quer auf der Straße liegen. Sie waren gerade soweit zur Seite geschoben, das ein Auto hindurchfahren konnte. Edwin stoppte. Am Straßenrand stand ein alter Mann, winkte ihnen zu und sprach mit Edwin. Dann winkte er wieder und tippte an seine Brille. „Dem hab ich gestern die Brille verpasst.“, freute sich Marianne Larsen. Sie fuhren weiter. Der Alte winkte noch bis sie außer Sichtweite waren. Nach ein paar hundert Metern umfuhren sie eine weitere Blockade. Edwin stoppte wieder und fragte einen Mann am Straßenrand. „Der war bei mir gestern.“, sagte Balke, „Das ist doch einer von Edwin´s Leuten.“ „Scheint so als hätte er seine Leute hier verteilt, damit sie die Lage checken können“, sagte Geir. „Das ist ja gut“, stellten sie fest, ahnten aber, dass das bis Les Cayes nicht durchzuhalten war.
Plötzlich stand ein Polizeiauto am Weg
Die Anspannung war ungeheuer. Immer wieder trafen sie auf Blockaden, die zwar offen waren oder wenn nicht, zumindest umfahren werden konnten. Neben den Blockaden stand meist ein Auto und auf den Motorhauben hockten ein oder zwei junge dünne schwarze Männer, oder lehnten an der Tür und schauten die Straße rauf und runter. Ansonsten waren die Blockaden aber weitestgehend unbemannt.
Die Route National Deux führte von der Küste weg über die Berge. Der Dolmetscher Claude klopfte an die Scheibe. Er lachte und zeigt mit dem Daumen hinüber zu Bernard, einem anderen Dolmetscher, der mit dem Kopf zwischen den Knien dasaß und schlief. Alle lachten. „Ich glaub wir können aufhören uns Sorgen zu machen. Die Jungs machen sich jedenfalls keine“, sagte Balke.
Plötzlich stand ein Polizeiauto am Weg. Sie stoppten. Edwin stieg aus, ging auf das Polizeiauto zu und sprach mit den beiden Polizisten. Die zeigten irgendwo hin. Er stieg wieder ein, wendete und fuhr in einen staubigen Weg zwischen zwei Mauern hinein. Auf dem Weg waren auch wieder einige Leute unterwegs, er war nicht breiter als drei Meter. Nach ein paar hundert Metern mündete der Weg in einem Flussbett. Reifen lagen aufgereiht wie eine Kette quer durch den Fluss. Ein weißer Pickup stand, offensichtlich abgesoffen, im Wasser. „Oh, sollen wir da drüberfahren?“, fragten sich alle Beteiligten. Edwin schaukelte langsam neben der Reifenkette entlang durch den Fluss. Wasser spritzte über die Motorhaube. Die Pickups zogen kein Wasser - sie kamen durch. Schließlich erreichen sie Les Cayes. Hier war es ruhiger und es fuhren wieder Autos und Trucks in beide Richtungen. Am Rande der Stadt bogen die Wagen nach links in ein abgezäuntes Areal ab. Der Flugplatz.
Halb Haiti wollte das Land verlassen
Jetzt war beinahe wie alles gut. Das Gepäck wurde abgeladen. Sie klopften sich erleichtert auf die Schultern, umarmten sich. Das Gepäck, viel war es ja nicht mehr, wurde schnell kontrolliert. Nach einer Stunde kam der Flieger und nahm sie an Bord. Es war ein Flugzeug mit 19 Sitzen. Aus Gewichtsgründen wurden aber nur die sieben Mitglieder von Ocular Globe mitgenommen. Pilot und Co-Pilot waren Australier. Sie waren um die dreißig Jahre alt. „Hello, I´m Jason and this is capitain PC.“ Jason wünschte einen angenehmen Flug. 25 Minuten später kamen sie in Port-au-Prince an. Dort wartete ein Kleinbus und brachte sie ins Hotel. Es lag etwas abseits des Zentrums und der Transport musste nicht durch weitere Blockaden.
Am nächsten Morgen trafen sie auf einem chaotischen Flugplatz ein. Halb Haiti wollte das Land verlassen. Von überall her kamen Helikopter mit Amerikanern und Kanadiern, was die Starts der übrigen Flüge verzögerte. Als ihr Flug dann endlich abhob und eine dreiviertel Stunde später in Santo Domingo landete, waren alle erleichtert.
Sie waren sich schnell einig, dass sie viel Glück hatten, aber sie waren auch sehr dankbar darüber, so vielen Menschen geholfen zu haben. Hoffentlich wird es nächstes Jahr ruhiger. Wenn einer der Leser den Wunsch und die Möglichkeit hat, das Projekt in Zukunft zu unterstützen, so können Sie gerne Kontakt zum Autor aufnehmen (martin.balke@hotmail.de).