Brillen.de überholt sich und seine Digital Service Hubs
Brillen.de ist schnell. Doch manchmal überholen sich die Berliner selbst, was Volker Grahl als Vorstandsmitglied der für die Marke Brillen.de verantwortlichen Supervista AG im Telefonat nach meinem interessanten Selbsttest bereitwillig zugibt: Man sei zeitlich im Verzug, das Marketing sei schneller gewesen, sagt Grahl und erklärt: „Wir haben zwei Mammutaufgaben zu bewältigen: einen neuen Ansatz hinsichtlich Technik und Beratungs-/Kaufprozess in unseren Filialen zu installieren und zu etablieren – und gleichzeitig unser Konzept bekanntzumachen. Dass das nicht immer nahtlos ineinander übergeht, damit muss man meines Erachtens leben.“ Gemeint sind die Digital Service Hubs (DSH; siehe auch DOZ 03/21), mit denen sich für Augenoptikerinnen und Augenoptiker neue Möglichkeiten eröffnen sollen, einfach und ohne zusätzliches Personal Filialen zu eröffnen. Der Verbraucher kauft dann seine Brillen, unterstützt durch Künstliche Intelligenz, quasi digital ein und kann trotzdem auf die fachmännische Expertise vor Ort im Geschäft hoffen. Letztlich muss er auch darauf hoffen, was der in dieser Hinsicht gewiss nicht repräsentative Test andeutet.
Zur Ausgangslage: Als Brillen.de in die Werbung und Akquise der Kooperationen mit Augenoptikern geht und das DSH-Konzept kommuniziert, wirft das natürlich einige Fragen auf. Nicht zuletzt bei mir, einem Autor mit Meisterbrief als Augenoptiker und einem beruflichen Hintergrund beim Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen (ZVA). Da ich zudem über eine durchaus veritable Kurzsichtigkeit verfüge und auch bereits Erfahrungen mit Gleitsichtgläsern sammeln durfte, übernehme ich gerne den Redaktionsauftrag, mich einmal in einem Brillen.de-Geschäft dem Smart Mirror gegenüberzustellen und die Remote-Refraktion auf Herz und Nieren zu prüfen. Letzteres gelingt, aber das durch Künstliche Intelligenz unterstützte Beratungstool sehe ich nur im Vorbeigehen beziehungsweise ausgeschaltet und trotzdem pompös an der Wand hängend.
Frequenz, Effizienz und Umsatz
Online und Offline verbinden und so ein neues Kauferlebnis schaffen, so ähnlich könnte man von außen die Marschroute der Supervista-Macher beschreiben. Natürlich steht das Kauferlebnis in der B2C-Kommunikation für den Verbraucher in Fettschrift geschrieben, bei Augenoptikerinnen sowie firmenintern verheißen die neuen Technologien vor allem Frequenz, Effizienz und Umsatz. Letzterer ist in meinem Fall aus diversen Gründen kaum zu erwarten, und so versuche ich bei der Terminanbahnung ein Geschäft zu wählen, bei dem ich sicher sein kann, dass es mit einem DSH ausgestattet ist und ich insofern das dort arbeitende Personal nicht sinnlos von der eigentlichen Arbeit abhalten muss. Ich zögere und breche den nur online möglichen Versuch nach der vorher zwingend erforderlichen Eingabe meiner Telefonnummer ab. Und wieder beweist Brillen.de Schnelligkeit, denn nur wenige Minuten später erhalte ich per SMS die Nachricht: „Hallo, wir haben Dein gewähltes Angebot für Dich hinterlegt. Nicht vergessen: Nur mit Buchung eines Termins sicherst Du Dir Deine Gratis-Brille sowie den kostenfreien Sehtest. Ruf uns unter 030 - 220564065 an und wir schauen für Dich nach einem passenden Termin.“
Noch ehe ich meine Überlegung fortführen kann, wie ich jetzt vorgehe, klingelt mein Telefon. Die Nummer aus Berlin lässt erahnen, wer dran ist, und ja, der Kollege fragt freundlich und bestimmt nach, woran denn meine Terminfindung scheitert? Er schlägt mir Filialen in der unmittelbaren Nähe vor und ist hörbar irritiert, dass ich aber gerne mit möglichst wenig Menschen in Kontakt treten möchte. Schon in diesem Gespräch offenbart sich die nicht immer konsistente Kommunikation von Brillen.de mit dem Kunden, der in der SMS und in der Werbung geduzt, in den Mails nach dem Kauf und persönlich aber gesiezt wird.
Ich gehe ins Risiko
Nun denn, getrieben von der „Angst“, weitere Anrufe und Kurznachrichten zu erhalten, mache ich online einen Termin und gehe ins Risiko. Mit Erfolg, der sehr kleine Brillen.de-Laden irgendwo im Umkreis von Köln ist mit einem DSH ausgestattet, aber ich werde sofort von einer netten Frau in Empfang genommen und an die Brillenregale und -schubladen gestellt. So kann ich nichts mit meinem Barcode für die Registrierung anfangen und so kann ich mir auch nicht digital eine Fassung aussuchen. Aber, ich schaffe es zur Remote-Refraktion durchgelassen zu werden, obwohl die nette Frau mir den Eindruck vermittelt, ich solle doch lieber mit meinen alten Werten vorliebnehmen – „die haben Sie doch sicher dabei? Und damit kommen Sie doch offensichtlich noch gut klar!“ Notlüge: „Ja schon, aber ich denke über eine Computerbrille nach. Und wenn sich die Werte geändert haben sollten, brauche ich ja auch eine neue Gleitsichtbrille für den Alltag.“
Geschafft: Ich sitze auf dem Refraktionsstuhl und komme in den Genuss der digitalen Brillen.de-Welt, die sich mir in Form eines QR-Codes auf meinem Handy auftut (siehe Grafik). Den darf ich aber nur der netten Frau diktieren, damit sie sich in ihren Rechner einwählt. Kurz darauf ertönt etwas blechern die Stimme einer von anderswo über einen Bildschirm zugeschalteten Frau, die sich als Optometristin vorstellt und mir per Remote nun die Augen prüft. Die Tonverbindung ist mies, darunter „leide“ nicht nur ich, sondern auch das ältere Ehepaar, das gefühlt direkt neben mir auf der Suche nach neuen Fassungen ist. Gemeinsam mit meiner netten Beraterin, die nun ausreichend Zeit dafür findet; ganz im Sinne des Konzepts, wie Volker Grahl erklärt: „Das Ziel ist, viele Schritte in den Geschäften digital zu ermöglichen. Am Smart Mirror sollten Check-in und Anamnese stattfinden, das werden wir aber zukünftig mit einer iPad-Lösung realisieren. Der Self-Check-in, die Remote-Refraktion und der Self-Service bei der Fassungsauswahl verschaffen Augenoptikern schlicht Zeit, sich um mehrere Kunden gleichzeitig im Geschäft zu kümmern.“ Denn das Geschäftsmodell ist natürlich hauptsächlich auf Frequenz ausgerichtet, nur dann rentiert sich der Aufwand für Brillen.de und nur dann lohnt es sich für die Partner-Augenoptiker und -Augenoptikerinnen.
Draußen am Schaufenster des Brillen.de-Express ist der ehemalige Preis für eine Gleitsichtbrille überklebt worden, drinnen werden weitaus größer noch 109 Euro kommuniziert. Für den Test des DSH irrelevant, aber was sagen die Kunden dazu?
Pilotphase scheint ein Ende zu nehmen
Es gibt drei Möglichkeiten, auf den Zug aufzuspringen: Auch ich könnte mit meinem Meisterbrief und einem Ladenlokal an einem passenden Standort Partner von Brillen.de und zu 25 Prozent am Nettoumsatz beteiligt werden. Auch könnte ich mich in einem Brillen.de- Express-Laden anstellen lassen, mit einem Festgehalt ohne Umsatzbeteiligung. Und letztlich könnte ich auch meinen bestehenden Laden mit einem „Micro-DSH“ (Grahl) bestücken, Brillen.de-Partner sein, aber auch noch andere Fassungen und Brillengläser verkaufen. Die Remote-Refraktion (die laut Grahl schon bald mit einem Headset durchgeführt werden wird, was sicher für alle vor Ort Anwesenden eine Verbesserung darstellt) könnte ich dann trotzdem nutzen. An dieser Stelle und bei diesem Beispiel muss man das Konzept in Schutz nehmen und den Test in die richtige Umgebung packen, denn bereits in der Akquise erklärt Supervista, dass die ersten DSH-Betriebe mit ihren Erfahrungen und ihrem Feedback zu Verbesserungen für die Zukunft beitragen. Diese Pilotphase scheint nun ein Ende zu nehmen. Grahl: „Wir haben in den vergangenen drei Monaten sehr dazugelernt, was unser Konzept angeht und können unsere Filialen jetzt deutlich beschleunigt in DSHs verwandeln, die über alle Bestandteile des neuen Konzepts verfügen.“
Die persönliche Glasberatung bei meinem Besuch lässt viele Wünsche offen. Vielleicht ist es auch ein Versehen, dass die nette Frau Plus- und Minus-Gläser bei der Nahprüfung vertauscht, nicht auf Leseabstände achtet, sich bei der Glasberatung einzig an den Preisen entlanghangelt, statt Nutzen aufzuzeigen. Mir stellt sich hier die Frage, ob der unabhängige Augenoptiker, dessen Filiale ich besuche, in seinem Hauptgeschäft eine solche aus meiner Sicht miserable Beratung akzeptieren würde. Ich bin in einem Brillen.de-Geschäft, das gelabelt ist mit „brillen.de by Optik …“ und „dessen Personal deswegen auch vom Betreiber des Geschäfts verantwortet wird“, erklärt mir im Nachgang Grahl. Er nimmt natürlich die Meisterpräsenz ernst, stellt sie aber deswegen trotzdem infrage. „Unsere digitalen Helfer sollen unterstützen, wir möchten das Augenoptiker- Handwerk mit unseren Innovationen nicht wegerfinden! Aber der Personaldruck ist enorm. Wir glauben an die Raumdeckung, nicht mehr an die Manndeckung“, erklärt er metaphorisch.
Ein schwieriges Thema: VIU hatte in der Vergangenheit als Filialist auch schon versucht, ohne Refraktionsbestimmung und ohne Meister auszukommen, auch die Brillenpartys sind uns in dieser Hinsicht in Erinnerung. Konkret und aktuell hat die Stadt Wilhelmshaven den Betrieb einer Brillen.de-Niederlassung untersagt, die auf die Remote-Refraktion setzen wollte und nicht in die Handwerksrolle eingetragen ist. Man darf gespannt sein, wie sich diese Entwicklung fortsetzt. Denn die Technologie schreitet voran, es gibt Geräte am Markt, die auch ohne einen aus der Ferne zugeschalteten Augenoptikermeister ein sehr gutes Ergebnis für die Brillenträgerin produzieren. Und die Remote-Refraktion
hat bei meinem Test auch gut funktioniert – selbst wenn ich diesbezüglich voreingenommen bin.
Grau (unterlegt) ist alle Theorie. In der Praxis hing der Smart Mirror, der die Kunden zu ihrer Anamnese befragen soll, bei unseren Tests ausgeschaltet an der Wand.
Zweiter Versuch anderswo
Es ist die persönliche Beratung, weswegen ich mich zu einem zweiten Versuch anderswo entscheide: In Willich beim „brillen.de Express“. Dass ich dieses Geschäft beim Namen nenne, lässt schon eine Wertung erahnen – obwohl ich zunächst kein Glück habe. Online ist kein schneller Termin zu bekommen, also fahre ich einfach hin – ohne Erfolg: Urlaub, Geschäft geschlossen. Ich muss knapp zwei Wochen warten, ehe ich online dieses Mal für eine Einstärkenbrille einen Termin machen kann. Ich erinnere mich an die SMS-Nachrichten und Anrufe beim ersten Mal und bin neugierig, und siehe da, obwohl ich die Terminfindung auch dieses Mal abbreche: kein Anruf, keine SMS. Wer nun in der ausgeklügelten und mitunter aufdringlich erscheinenden „Frequenz-Beschaffung“ Supervistas eine geplante Vorgehensweise vermutet, weil Termine für Einstärkenbrillen nicht so interessant sind, wird von ganz oben enttäuscht: „Nein, das war dann Zufall“, erklärt Grahl, die Nachfassanrufe seien nicht abhängig von der Wahl einer Einstärken- oder Gleitsichtbrille.
In Willich fällt mir der gut gelaunte und offene Augenoptiker auf, der mir entgegentritt und den Weg zum Smart Mirror versperrt. Draußen am Schaufenster ist der ehemalige Preis von 109 Euro für eine Gleitsichtbrille überklebt worden, was bei einem neuen Angebot von 129 Euro zu verkraften sein sollte – zumal es ja eine zweite Brille zum selben Preis gratis dazu geben soll. Im Geschäft springen einem aber noch die 109 Euro riesig von der Wand an, „stimmt, da komme ich aber auch nicht heran“, sagt Glen Gloy, als ich ihn darauf anspreche. Ein Name, der Erinnerungen weckt, die er mir später nach dem Kauf meiner Lesebrille bestätigt. Gloy hat vor vielen Jahren an der Glockenspitz-Berufsschule in Krefeld Augenoptiker in der Werkstatt unterrichtet. In den vergangenen Jahren hat er als mobiler Augenoptiker auf sich aufmerksam gemacht, er kennt sich also in Grauzonen gut aus, mag man meinen. Aber Gloy weiß, was er tut, jeder Handgriff sitzt, die Beratung ist knapp, aber passend und die schnelle Kontrolle der Sehwerte für die Nähe ist die gewohnte beim Augenoptiker.
"Ist eher für die Zukunft gedacht"
„Der Smart Mirror funktioniert noch nicht, der ist eher für die Zukunft gedacht“, meint Gloy, der mit seinem souveränen Auftreten aber auch ohne technische Hilfsmittel drei Kunden im Geschäft gleichzeitig bedienen beziehungsweise dirigieren kann. Beim Abholen der Brillen, was mir durch den E-Mail-Versand der Rechnung nahegelegt wird, unterbricht er die Refraktionsbestimmung bei einem anderen Kunden und bittet mich mit der Herausgabe der Brille(n), in 15 Minuten noch einmal wiederzukommen – zur Anpassung. Mache ich nicht, sondern rufe ihn einen Tag später an. Ich gebe mich zu erkennen und frage, warum er denn nicht mehr als mobiler Augenoptiker tätig ist? „Das war nicht lukrativ genug, auch schon vor Corona nicht.“ Zu allem anderen möchte er nicht viel sagen, er ist zwar Betriebsleiter, aber angestellt. Ich möge lieber in Berlin nachfragen – was ich dann ja auch gemacht habe.
Fazit: Die innovative Technologie, mit der Supervista die Brillen.de-Augenoptikerinnen in die Lage versetzen möchte, drei Kunden zur selben Zeit zu bedienen, ist im Testzeitraum von mehreren Wochen an den zwei Standorten nicht verfügbar. So sind es zwei Testkäufe, deren Qualität in erster Linie von dem vor Ort befindlichen Personal beeinflusst wird. Mit Ausnahme der Remote-Refraktion, die aber technisch wahrlich keine Hexerei mehr darstellt – selbst wenn sie berufsrechtlich als solche angesehen wird. Es gibt etliche gute Gründe, warum man an den bestehenden Regelungen der Handwerksordnung festhalten sollte, aber deswegen muss man den eingeschlagenen Weg von Brillen.de nicht generell verteufeln – auch wenn man es möglicherweise gerne wollte. Supervista hat sich in der Vergangenheit als wandelbar und beweglich gezeigt. Vermutlich mitentscheidend für den Erfolg des Konzepts könnte langfristig die Frage nach der Meisterpräsenz sein – die Remote-Refraktion ist zwar nicht der einzige, aber ein entscheidender Baustein. Sicher scheint deswegen nur: Diese Story ist noch nicht zu Ende erzählt, so schnell ist Brillen.de dann doch nicht.
Der Artikel wurde in der September-Ausgabe der DOZ veröffentlicht.
Autor: Ingo Rütten