Pricons Kindersportbrille auch für Matheunterricht
Achtung, Ball fällt! An der Ruhr-Uni Bochum werden Sportbrillen unbarmherzigen Belastungstests ausgesetzt.
Erstveröffentlicht in der DOZ 10I23
Jeder kann sich in seiner Schulzeit an den Sportunterricht erinnern, ebenso an dieses eine Kind, das seine Brille aus Sicherheitsgründen ablegen musste – und quasi dauerhaft den Ball abbekam. Diesen – auch heute noch aktuellen – Zustand hält Pricon-Chef Matthias Köste für unerträglich. Aus diesem Grund wollte er eine Brille entwerfen, die Kinder sicher im Schulsport und im Alltag tragen können. Aber wie stellt ein Fassungshersteller sicher, dass eine Brille gewisse Sicherheitsstandards erfüllt und wer legt diese Standards fest? Die Antwort: das Deutsche Institut für Normung. Insgesamt gibt es mehr als 34.000 DIN-Normen zu unterschiedlichen Bereichen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Handwerk.
Matthias Köste kommt selbst aus einer sportbegeisterten Familie und erinnert sich noch gut an die Mitschüler im Sportunterricht, die aufgrund des Verletzungsrisikos ihre Brillen ablegen und sozusagen halb blind an diesem teilnehmen mussten. Das ist zum einen unfair gegenüber den Schülern, die beispielsweise beim Völkerball als Erste abgeworfen werden, weil sie den Ball gar nicht oder viel zu spät auf sich zufliegen sehen. Zum anderen weiß Köste aber auch, dass man nicht von den Lehrern verlangen kann, eine Alternative zu präsentieren. „Je nach Bundesland kommt eine Info vom Kultusminister an die Sportlehrer, dass diese dafür Sorge zu tragen haben, dass eine Brille kein zusätzliches Risiko für die Kinder im Sport sein soll“, erklärt Köste. „Das soll dann auch noch in enger Abstimmung mit den Eltern geklärt werden. Die Lehrer sind damit schlicht überfordert.“
Nicht nur leere Werbeversprechen
Genau dieses Problem haben Dr. Gernot Jendrusch und sein Team an der Fakultät für Sportwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) zum Anlass genommen, einen einheitlichen Test für Sportbrillen zu entwickeln. Pricon war durch Köste, der die Firma 2011 übernahm, von Anfang an mit dabei. „Wir als Firma hatten zuvor immer mit dem Versprechen geworben, dass man unsere Brillen bedenkenlos und risikofrei tragen könnte, hatten aber noch nie einen solchen Test gemacht.“ Um die Entwicklung der Brillen in Kombination mit einem einheitlichen Test übersichtlicher zu gestalten, wurde unter Federführung der Ruhr-Universität eine Gruppe zur Ausarbeitung der geplanten Norm gebildet. Köste stellte als Teil dieser Gruppe bald fest, dass er sich Festlegung einer solchen Norm sehr viel einfacher vorgestellt hatte. An der aktuellsten Norm 58184 war Köste zwar nicht direkt beteiligt. Doch setzte er sich nach deren Veröffentlichung im August 2021 das Ziel, eine Kindersportbrille zu entwickeln, die die Standards dieser Norm erfüllen würde. Es war der Startschuss für „Fitti“.
Im Testlabor zunächst ernüchternde Ergebnisse
Vor der Entwicklung der „Fitti“-Kinderbrille nach der DIN-Norm 58184 hatte Pricon bereits mehrfach seine Schulsportbrillen an der RUB testen lassen und sowohl deren grünes Siegel („augenschutz- und sporttauglich“) als auch das gelbe Siegel („alltagstauglich“) bekommen – allerdings nur jeweils eins der beiden Siegel für unterschiedliche Brillen. „Wir wollten jetzt aber eine Brille entwickeln, die beide Kategorien abdeckt“, erklärt Köste. Ihm persönlich ging es vor allem darum, dass die zu entwickelnde Brille nicht nur für drei Stunden Schulsport, sondern auch für Vereinssport wie Basketball, Handball oder Hockey mehrmals in der Woche geeignet sein sollte. Genau an diesem Punkt setzt die neue DIN-Norm laut Köste an: „Sie verbindet zwei Kategorien: einmal das Alltagstaugliche und einmal das Sportliche. Das heißt für Kinder, dass sie eine Brille haben, die sie nicht nur im Sport tragen können, sondern ebenso im Matheunterricht. Hinzu kommt noch, dass sie trotzdem wie eine ganz normale Brille aussieht.“ Für Eltern impliziert das natürlich – dazu später mehr – dass sie ihrem Kind für Mathe und Basketball nur eine Brille kaufen müssen.
„Es kann nicht im Sinne der Eltern sein, dass sie keine alltags- und schulsporttaugliche Brille in einem für ihre Kinder kaufen können“, sagt Matthias Köste. „Und es kann nicht im Sinne der Kinder sein, dass in der Schule den Spaß am Sport nicht erlernen können, weil sie ohne Brille beeinträchtigt sind.“
Brille aus dem 3D-Drucker
Bis zum finalen Prototyp war es jedoch ein langer Weg. Die Bochumer Brillenglasmanufaktur Stratemeyer, mit der Pricon zusammenarbeitet (für die optische Gestaltung konnte Pricon das Designteam seines Hauptlieferanten Centro Style gewinnen), baute ein Testlabor auf, in dem die Prototypen getestet wurden – zunächst mit ernüchternden Ergebnissen. Zwar bestanden alle Sportschutzfassungen von Pricon den Test, was die Schulsporttauglichkeit anging, fielen aber beinahe alle in puncto Alltagstauglichkeit durch. Der Grund: Bei einem Plusglas ist die Rückseite im Gegensatz zum gewölbten Minusglas flach, was den Abstand zum Auge verkürzt. Hinzu kommt, dass Kunststofffassungen ohnehin näher am Auge sitzen als Metallfassungen. Dieser Umstand zeigte seine Risiken im Testlabor beispielsweise bei einem simulierten Ellenbogenstoß: Das Glas klatschte dem Dummy direkt aufs Auge.
Die Prototypen wurden zunächst per 3D-Drucker hergestellt. Anschließend wurde für die praktische Umsetzung des Prototyps mit den echten Materialien eine sogenannte „Mold“ (Gussform) geöffnet. Dies birgt immer ein finanzielles Risiko, denn vorher ist nicht klar, ob der Prototyp den Test besteht und im Schnitt kostet die Umsetzung einer solchen Mold laut Köste 18.000 bis 25.000 Euro. Der ganze Prozess von Design, Mold-Eröffnung, Prototypherstellung und erfolgreichem Test sollte etwa zwölf Monate dauern. Insgesamt bestand das Kernteam aus 34 Leuten. Im Falle von „Fitti“ hatte das Team Glück. Nach zwei Molds und damit zwei Prototypen, die im Labor von Stratemeyer getestet wurden, war das Ziel erreicht: Einer der beiden erfüllte die neue DIN-Norm.
Bruchsichere Polycarbonat-Gläser
Die Anforderungen sind sowohl für die Fassung als auch für die verwendeten Gläser sehr strikt. Das Fassungsmaterial muss einerseits stabil sein, darf aber im Falle eines Bruchs keine scharfen Kanten bilden, die Träger oder Trägerin verletzen könnten. Dafür hat Pricon Grilamid verwendet, einen sehr leichten Kunststoff. Zudem musste durch das Design sichergestellt werden, dass das Brillenglas bei einer harten Erschütterung wie etwa durch einen Ball nur nach vorn herausfallen kann. Das erreichte Pricon mithilfe des Designteams von Centro Style durch eine leichte Erhöhung des Rahmens auf der Innenseite der Fassung. „Das Glas geht so automatisch den Weg des geringsten Widerstandes“, erklärt Köste. Die Anforderungen der DIN 58184 legen zudem genau fest, wie weit sich das Material bei einem Aufprall biegen darf und wie viel maximale Belastung für den kindlichen Nasenrücken akzeptabel ist1 . Die Scharniere sind zum größten Teil aus Kunststoff , bis auf die Verbindungsschraube, die zusätzlich mit Polycarbonat ummantelt ist, sodass das Metall im Falle eines Bruchs nicht in Kontakt mit dem Kindergesicht kommen kann. Hinzu kommt, dass die verwendeten Brillengläser aus bruchfesten, nicht deformierbaren Materialien wie Polycarbonat oder Polyurethan bestehen müssen; nicht geeignet sind dagegen mineralische Materialien oder fragilere Kunststoffe wie zum Beispiel CR39.
Für den Halt: Gummiband statt Stahleinlagen
Bei einer so leichten Fassung fragt man sich natürlich, wie die Brille trotzdem festen Halt haben soll. Schließlich soll sie ja auch für den Vereinssport genutzt werden können, der den Kindern meist mehr abverlangt als 45 Minuten Schulsport. Dafür gibt es extra ein Gummiband, das bei intensiverem Training über den Hinterkopf beide Bügel miteinander verbindet. Zudem ist an beiden Bügelenden noch einmal rutschfestes Material verarbeitet, das zusätzlichen Halt bietet. An dem Punkt, sagt Köste, habe man bei Pricon auch mit Memory-Stahleinlagen experimentiert, um die Bügelenden etwas schwerer zu machen. Schließlich sei aber die Gefahr, dass das Metall bei einem Bruch der Brille aus dem Kunststoff austreten könnte, zu groß gewesen, weshalb man sich dagegen entschieden habe. Das Kopfband kann zusätzlich über ein kleines Silikon-Röhrchen, ein sogenanntes „Tube“, noch einmal verlängert werden, sollte das Band alleine zu eng für das Kind sein.