

SPEZIAL
DOZ
09 | 2017
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drei Gleitsichtbrillen – wenn wir bei dem
Thema bleiben wollen – Pflicht. Ja, und
dann sind da noch die Lesebrille für das
Bett für alle Nichtmyopen, die Rasierbrille
für den Mann ab 55 und so weiter und
so weiter.
Wir sind etwas vom Weg abgekommen,
also zurück zu den Reklamationen und
den Gründen dafür. Neben der zielge
rechten Beratung gibt es sicher noch
andere Stolpersteine.
Es gibt zum Beispiel Schicht-Reklama-
tionen, was aber nichts mit dem Thema
Gleitsicht zu tun hat, sondern durch den
höher werdenden Anteil von hochbre-
chenden Kunststoffmaterialien zu erklären
ist. Ich habe schon gesagt, dass Fehler im
Produktionsprozess entstehen können.
Aber eben auch Refraktionsfehler, Zent-
rierfehler oder Ungenauigkeiten bei der
Anzeichnung. So etwas passiert, und das
ist ganz normal.
Welche Fehler können beim Hersteller
entstehen?
Die meisten Fehler in der Fertigung
sind heutzutage sofort sichtbar oder
messbar. Die Kontrolle vor der Auslie-
ferung ist automatisiert und umfasst
einhundert Prozent – alle Hersteller sind
deshalb viel besser geworden. Hochbre-
chender Kunststoff stellt wohl alle vor
mehr oder minder größere Probleme bei
der Färbung. Auch im Reinigungsprozess
vor der Beschichtung kann es sein, dass
mal etwas passiert. Aber, wir reden hier
von einem Anteil im niedrigen Promille-
bereich.
Öfter kommt es vor, dass
eine lange Progression
Probleme beim Kun-
den verursacht. Die
Brillen sind wieder
größer geworden,
das verleitet dazu,
längere Progressio-
nen zu verwenden.
Das geht aber mindes-
tens dann in die Hose,
wenn der Kunde zuvor
eine kurze Progression genutzt
hat. Unabhängig von der Scheibengröße
der Fassung ist die kürzest mögliche
Progression immer die beste, weil das
physiologisch dem natürlichen Sehen ent-
spricht. Lange Progressionen gab es vor
weit mehr als 15 Jahren, weil es technisch
nicht möglich war, sie kürzer zu gestalten.
Womit Sie wieder die Kurve zur Bera
tung nehmen. Ist im Gleitsichtglasver
kauf heute noch der Edding oder der
PDMaßstab erlaubt?
Das geht, ja, aber fürs Image des Au-
genoptikers ist das eine Katastrophe.
Wenn ich mit meinem Auto heute in die
Werkstatt fahre, steht der Mechaniker
auch nicht mit dem Hammer da. Heutige
vollindividualisierte Gleitsichtgläser sind
nach meinem Eindruck viel empfindli-
cher für Reklamationen geworden, ihren
wirklichen Tragekomfort können sie nur
entfalten, wenn wirklich alles stimmt. Wir
forschen noch daran, doch bislang hat
noch niemand heraus gefundenen, warum
das so ist. Das heißt, in der Anpassung
muss einfach alles stimmen, die
Beratung gehört hier dazu und
steht an erster Stelle. Danach
müssen alle heute verfügba-
ren Möglichkeiten bei der
Refraktion ausgeschöpft wer-
den, die Anamnese darf keine
Fragen unbeantwortet lassen.
Die anatomische Brillenanpas-
sung und erst danach die Zent-
rierung müssen genauso sorgfältig
beachtet werden wie die Fertigung und
der Einschleifprozess, die durch neueste
Technologien unterstützt werden. Zuletzt
ist wieder der Augenoptiker bei der Ein-
weisung in die Gleitsichtbrille gefragt.
Wenn bis dahin alles perfekt gelaufen ist,
wird der Kunde zufrieden weitere Brillen
bei ihm kaufen.
Gutes Stichwort, denn zur Suche nach
dem Haar in der Suppe gehört auch die
Erwähnung, dass das Gleitsichtglas ein
Erfolgsprodukt ist und beim Augen
optiker nicht viel falsch gemacht wird.
So ist es. Aber wenn man sich umhört,
ist das Produktimage deutlich negativer
als die Realität. Ich kann wirklich nur ein-
dringlich raten, schaut euch den Kunden
genau an! Wie sind seine Körper- und
seine Kopfhaltung, wie groß sind seine
Arbeitsbereiche, was möchte er, was kann
er? Wenn die Beratung stimmt, wird der
Kunde wissen, was seine Gläser können
und wofür er Geld ausgegeben hat. Er
wird nicht nur dieser, sondern auch wei-
teren Gleitsichtbrillen viel offener gegen-
überstehen.
Ihre vorletzte Antwort schließt einen
erfolgreichen Onlineverkauf von Gleit
sichtgläsern aus, oder?
Theoretisch ja, ich halte das eigentlich
für ausgeschlossen. Wohlwissend aber,
dass es Anbieter gibt, die online verkaufen
und kaum Reklamationen beklagen.
Wie ist das möglich?
Das Bewusstsein für gutes Sehen
nimmt insgesamt eher ab, wir haben es
alle nicht geschafft, das in der Bevölke-
rung hochzuhalten. Ich habe schon von
den Erwartungen des Kunden gespro-
chen, jemand, der günstig eine Gleitsicht-
brille kauft und damit zurecht kommt,
fragt kaum danach, wie viel besser und
angenehmer er mit einer anderen sehen
könnte. Zudem hängt die Gewöhnung an
eine Gleitsichtbrille enorm von der indi-
viduellen Sensibilität des Brillenträgers
ab – hier gibt es die Sensiblen und die
Hufschmiede.
Zum Schluss noch einmal zu Ihrem
Vortrag, der auch deswegen so gut an
kam, weil die gezeigten Reklamations
beispiele so heftig und letztlich zum
Lachen waren. Welche Kuriositäten
sind Ihnen besonders im Gedächtnis
geblieben?
Ich möchte es bei einem Beispiel be-
lassen: Ein Kunde reklamiert seine Gleit-
sichtbrille nach zwei Wochen Tragedauer
und der Augenoptiker schickt diese ein.
Die Prüfung ergibt, bei einem Glas ist das
Nahteil oben eingeschliffen. Eine glück-
licherweise heute wie früher ausgespro-
chen selten vorkommende Reklamation.
n
Das Gespräch führte Ingo Rütten
Dr. Klaus Wehmeyer, Aufsichtsratsvor
sitzender der Deutschen Augenoptik AG.
(Foto: Deutsche Augenoptik AG)
… in der
Anpassung muss
einfach alles stimmen,
die Beratung gehört
hier dazu und steht
an erster Stelle.