10.000 Stores, aber anpassen darf nur der Augenarzt

Kultur und Tradition prägen den japanischen Kontaktlinsenmarkt

In Japan ist der Kontaktlinsenmarkt von kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten geprägt. Strenge Kleidervorschriften, spezialisierte Fachgeschäfte und Abo-Services sorgen für eine einzigartige Marktdynamik. Da Schönheitsideale und Komfort im Land der aufgehenden Sonne eine entscheidende Rolle spielen, werden Kontaktlinsen als praktische Sehhilfen immer beliebter. Der Markt zeigt, wie eng Gesundheit, Technik und Kultur miteinander verknüpft sind.

Gutes Sehen ist wichtig, um die berühmte „Alle-gehen-Kreuzung“ in Shibuya ohne Andozen überqueren zu können. Wohl auch deswegen gibt es dort an fast jeder Ecke einen Kontaktlinsen-Shop und zudem zwei Augenarztpraxen.

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Erstveröffentlicht in der DOZ 03I25

Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Japan denken? Vermutlich drehen sich Ihre Gedanken zunächst um Kirschblüten, Sushi oder auch um Anime und Manga. Ein Land zwischen Tradition und Moderne, über das man zwar einiges zu wissen glaubt, aber vieles auch unbekannt ist. So zum Beispiel, dass der Umsatz mit Kontaktlinsen in Japan im Vergleich zu Deutschland fast fünfmal so hoch ist. Zum anderen gibt es im Land der aufgehenden Sonne sehr viele reine KontaktlinsenStores. Sprich: Wer in Tokio eine Brille kaufen möchte, muss in einen Mischbetrieb gehen, in dem Brillen und Kontaktlinsen vertrieben werden.

 

Die Kontaktlinsen-Stores werden entweder von Selbstständigen oder von den Kontaktlinsenherstellern selbst betrieben. So beispielsweise von Menicon, das bereits 1958 den ersten eigenen Store in Nagoya eröffnete, dem heute mit 2,3 Millionen Einwohnern viertgrößten Industriezentrum Japans. Heute laufen die Menicon-Shops unter den Namen „Miru“ und „Menicon Miru“ – und damit namensgleich zur auch hierzulande vertriebenen hauseigenen Produktlinie. Während es in Deutschland insgesamt circa 11.000 augenoptische Betriebe gibt, findet man in ganz Japan alleine über 10.000 reine Kontaktlinsen-Stores – einzige weiße Flecken sind ein paar wenige abgelegene Inseln. Dabei kommen die Stores in ihrer Aufmachung höchst unterschiedlich daher: Manche sind kaum größer als ein kleiner Kiosk hierzulande, mitunter in die Jahre gekommen und mit rustikaler Holzvertäfelung, andere, gerade die herstellereigenen, punkten durch helle und offene Ladenflächen und weisen eher die Größe einer Boutique auf.

In Japan gibt's weder den Meister noch den Optometristen

Wer aber vermutet, dass es in Japan eine Vielzahl an hochqualifizierten Kontaktlinsenanpasserinnen und -anpassern in den Stores geben müsse, liegt falsch. Denn: In den Läden werden gar keine Linsen angepasst. Das Personal ist zwar in den Bereichen Produkt, Handhabung und Pflege geschult, jedoch existiert in Japan weder die Qualifikation des Augenoptikermeisters noch die der Optometristin – dafür gibt es laut japanischer Orthoptisten-Vereinigung die meisten Orthoptistinnen weltweit. Wer jedoch eine Kontaktlinse angepasst haben möchte, muss den Weg zu einer Augenärztin oder einem Augenarzt suchen. In Japan gibt es 13.554 Augenärzte, von denen zwischen 1.000 bis 2.000 auch Kontaktlinsen verschreiben. In Deutschland hingegen sind es nur 7.901 Augenärztinnen, und auch von diesen verschreiben nur wenige Kontaktlinsen.

So unterschiedlich auf der einen Seite die Marktstruktur zwischen Deutschland und Japan ist, so ähnlich ist auf der anderen Seite die Kontaktlinsenanpassung in den Arztpraxen in Japan und in deutschen Augenoptikbetrieben. „Im Untersuchungsraum messen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Sehstärke und Parameter und wählen eine Kontaktlinse aus. Bei Speziallinsen wie Orthokeratologie wird zusätzlich eine Optische Kohärenztomographie (OCT) des vorderen Augenabschnitts durchgeführt. Im Sprechzimmer überprüfen wir Augenärzte die Kontaktlinse sowie deren Sitz und verordnen diese“, erklärt Dr. Takashi Suzuki, Vorsitzender der Ishizuchi Eye Clinic und „Associate Professor“ für Augenheilkunde am Toho University Omori Medical Center, Tokio, im DOZ-Gespräch.

Der Kontaktlinsen-Store „Menicon Miru“ (links) bietet neben den kleinen Helfern auch verschiedene Handelswaren, wie Fertiglesebrillen und Pflegemittel. Ein kleinerer Shop ist zum Beispiel „Hana Contact“, der die Größe eines kleinen deutschen Kiosks hat.

© Seed • Menicon Japan

Regelmäßige Kontrollen direkt in den Arztpraxen

Neben Tausch- und Speziallinsen erfreuen sich in Japan auch farbige Kontaktlinsen großer Beliebtheit. „Nicht der Norm entsprechende Kontaktlinsen – also solche mit sehr knalligen Farben und Mustern wie zum Beispiel Manga-Augen – werden von den Kliniken weder verschrieben noch kontrolliert. Solch minderwertige Linsen erwerben die Leute auf E-Commerce-Websites oder im Einzelhandel in Gemischtwarenläden“, betont Suzuki. Bei jeder Neuanpassung erläutern die geschulten Mitarbeiterinnen der Praxen die Handhabung und Pflege der Kontaktlinsen und üben mit den Neueinsteigern das Auf- und Absetzen. „Nachdem unsere Patienten bei der Erstanpassung eingewiesen wurden, frage ich bei den Kontrollen regelmäßig, ob die Linsen richtig eingesetzt und gepflegt werden, und gebe bei Bedarf weitere Erklärungen“, erzählt Dr. Akari Yui, Director der Awajicho Eye Clinic, Tokio. Sie sieht einen Vorteil in der japanischen Regelung, Kontaktlinsen durch Augenärzte anpassen zu lassen: „Sollten die Patienten Beschwerden äußern, können wir direkt darauf eingehen und differenzieren, ob die Probleme von der Kontaktlinse oder vom Auge herrühren. Anschließend können wir entsprechende Therapien veranlassen oder andere Kontaktlinsen verordnen.“

Dr. Akari Yui (li.) und Dr. Takashi Suzuki passen in ihrem tägliche Praxisalltag viele verschiedene Kontaktlinsen an. Eine besonders hohe Nachfrage gibt es nach Tages- und Farblinsen.

© Wöhlk • Japan Ophthalmologists Association

Viele Shops, sowohl beschriebene stationäre Läden als auch Onlineshops, bestehen auf einem augenärztlichen Rezept. Darüber hinaus empfiehlt auch das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales die Verschreibung von Kontaktlinsen durch einen Facharzt. Schließlich fallen wie in Deutschland auch in Japan die kleinen Helfer unter die Medizinprodukte und unterliegen somit strengen Vorschriften. In Japan dürfen Kontaktlinsen daher nur mit einer entsprechenden Lizenz vertrieben werden, weshalb sie in Drogeriemärkten oder sogenannten „Konbinis“ (eine Mischung aus Supermarkt, Restaurant, Vorverkaufsstelle, Bank und Post) nicht erhältlich sind.

Trotz dieser Regelungen und Empfehlungen gibt es auch in Japan Möglichkeiten, Kontaktlinsen ohne vorherige Anpassung oder regelmäßige Nachkontrollen online oder in Shops zu kaufen. Dies führt dazu, dass die Zahl der Patienten mit Augenbeschwerden aufgrund falscher Pflege und Handhabung in den Praxen von Akari Yui und Takashi Suzuki steigt. „Die häufigsten Ursachen sind Schmutz und Bakterien, die sich aufgrund mangelnder Pflege auf der Linsenoberfläche ansammeln, oder die Reinigung der Kontaktlinse mit Leitungswasser“, erklärt Akari Yui. Um diesem wachsenden Problem entgegenzuwirken, das vor allem bei jüngeren Japanern auftritt, arbeiten Branchenverbände wie die Ophthalmologen- oder die Kontaktlinsenvereinigung, die aus Interessenvertretern der Herstellerfirmen besteht, zusammen. Neben der Einführung des Tages Kontaktlinse am 10. September und des Tages der Augengesundheit am 10. Oktober führen die Verbände Sensibilisierungsveranstaltungen durch, verteilen Poster und laden Aufklärungsvideos auf Plattformen wie Tiktok & Co. hoch. Um die jüngere Zielgruppe stärker für die Thematik zu interessieren, wurden die Videos und Poster teilweise im Anime- und Manga-Stil gestaltet, die in Nippon fest zur Kultur gehören.

Am Arbeitsplatz gelten etliche Vorschriften

Ebenso fest wie Anime und Manga sind in der japanischen Kultur strenge Kleidervorschriften bei der Arbeit verankert. Außerdem gibt es in bestimmten Firmen einige Verbote, wie gefärbte Haare und unzulässige Piercings. Je nach Job äußert die Firma auch den Wunsch, keine Brille zu tragen, um ein attraktiveres Erscheinungsbild zu schaffen. Ähnlich verhält es sich in den Schulen Japans: Auch hier gelten strikte Vorgaben bezüglich der Kleiderordnung und individuellem Körperschmuck wie Ohrringen oder Piercings. Brillen sind hier indes ohne Einschränkungen erlaubt.

Diese Art von AnimePlakaten wird von den Vereinigungen zur Verfügung gestellt, um auf die richtige Pflege und Handhabung der Kontaktlinsen zu verweisen. Gleichzeitig zeigen sie auf, was bei Nichteinhaltung passieren kann.
(Rechts) Hiroko Aikawa arbeitete ursprünglich für den Kontaktlinsenhersteller Seed in Japan und leitet aktuell als CEO das Geschehen der Tochtergesellschaft Wöhlk in Deutschland.

Dennoch nutzen viele Jugendliche ab der Mittelschule (12 bis 15 Jahre) Kontaktlinsen und das nicht nur für den Sport im Verein. „Es gibt viele Gründe, warum Teenager Kontaktlinsen tragen möchten. Sei es, weil die Brille schwer auf der Nase sitzt, sie beginnen sich zu schminken und möchten, dass das Make-up besser zur Geltung kommt, oder weil sie im Winter eine Maske tragen (in Japan wird vor allem bei Krankheitssymptomen aus Rücksicht auf die Mitmenschen eine Maske getragen, auch schon vor der Corona-Pandemie; Anm. d. Red.) und die Brille beschlägt“, erläutert Dr. Akari Yui verschiedene Motivationen.

„Zusätzlich bietet die Kontaktlinse einen sehr guten Sehkomfort, und für modebewusste Japanerinnen und Japaner stellen die farbigen Varianten eine willkommene Abwechslung dar“, erklärt Hiroko Aikawa, CEO von Wöhlk, die zuvor beim Mutterkonzern Seed Co., Ltd. in Tokio tätig war. „So stieg zum Beispiel der Verkauf von Kontaktlinsen, die die Augen größer erscheinen lassen, in den vergangenen Jahren immer weiter an.“ Neben der Hygiene kann der flexiblere Wechsel ein Grund sein, warum die Mehrheit Eintageslinsen bevorzugt, gefolgt von Zweiwochen-Linsen. In Deutschland hingegen genießen Wochen- und Monatslinsen eine höhere Nachfrage. Den geringsten Anteil machen in Japan die multifokalen Kontaktlinsen mit circa fünf Prozent aus. „Wenn die Presbyopie beginnt, empfehlen wir multifokale Kontaktlinsen. Sollten die Menschen mit diesen nicht zurechtkommen, versuchen wir es mit Monovision“, sagt Dr. Suzuki. „Für diejenigen, die die Vorteile der Kontaktlinsen bereits genossen haben, ist es meiner Meinung nach von großem Vorteil, auch multifokale Kontaktlinsen verwenden zu können“, ergänzt Dr. Yui.

Abo-Systeme sind Standard

Wer seine Kontaktlinsen nicht jedes Mal in einem der Stores nachkaufen möchte, kann sich diese über eines der verschiedenen Abo-Systeme nach Hause schicken lassen. Auch in Deutschland gibt es verschiedene AboMöglichkeiten, die teilweise gern genutzt werden. In Japan hingegen ist die Nutzung deutlich verbreiteter. Ein Beispiel bietet hier erneut Menicon, das die Kontaktlinsen über den MELS-Plan (Menicon Eye Life Support) in regelmäßigen Intervallen direkt an die Kunden nach Hause liefert. Doch der MELS-Plan ist mehr als ein reiner Lieferservice. Durch diesen sollen Kontaktlinsenträgerinnen und -träger langfristig bei Stärkenänderungen oder einem veränderten Lifestyle unterstützt werden. Diese Unterstützung äußert sich unter anderem in einfachen Anpassungen oder Änderungen des bisherigen Lieferumfangs oder des kostenfreien Ersatzes, sollte eine Linse beschädigt oder verschmutzt sein. Auch andere Hersteller und Vertreiber von Kontaktlinsen bieten Lieferdienste in Japan an. Dadurch wird es auch für diejenigen Menschen einfacher, ihre Linsen zu erhalten, die einen weiteren Weg in die Stadt oder zu einem Kontaktlinsen-Store haben.

Trotz der Abo-Services empfehlen die Hersteller und Kontaktlinsen-Stores natürlich auch immer regelmäßige Nachkontrollen bei Augenärzten. Um das Wissen der Fachärztinnen auf einem hohen Niveau zu halten, veranstalten akademische Organisationen wie die Japan Ophthalmological Association und die Japan Contact Lens Society regelmäßig Seminare und Konferenzen. Darüber hinaus organisieren auch verschiedene Kontaktlinsenhersteller Seminare und Studiensitzungen, die von erfahrenen Augenärztinnen und Augenärzten abgehalten werden.

Die besondere Organisation des Kontaktlinsenmarkts in Japan verdeutlicht, wie stark Kultur und Tradition das Gesundheitswesen im Land prägen. Und der Blick hinüber zeigt, wie unterschiedlich Marktzugänge und Ansprüche weltweit sein können. Wie bei Kirschblüten, Anime und Sushi spiegelt sich auch hier Japans einzigartige Mischung aus Tradition und Moderne wider.